Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben
Autoren: Lisa Genova
Vom Netzwerk:
beiden vermisst Bobs alten Job. Er hat eine Stelle bei Verde Inc. gefunden, wo er einem internationalen Kundenstamm hilft, ökonomisch sinnvolle Pläne zur Umstellung auf erneuerbare Energien zu entwickeln. Die Firma ist jung, smart, sie wächst und ist leidenschaftlich bei der Sache – und Bob ist begeistert. Sie hat ihren Sitz in Montpelier, etwa fünfzig Meilen von unserem Zuhause in Cortland entfernt, aber er kann die ganze Strecke auf dem Highway fahren, und es herrscht nie viel Verkehr, sodass er nur eine Dreiviertelstunde braucht – genauso lange, wie wir immer von Welmont nach Boston gebraucht haben (wenn das Wetter gut war, es keine Unfälle gab und die Red Sox nicht in der Stadt waren). Alle in der Firma haben Verständnis dafür, dass er das Büro früh verlassen muss, um mir und den Kindern zu helfen. Im Allgemeinen ist er um 16.00 Uhr zu Hause.
    Die Grundschule hier ist wundervoll. Die Klassen sind nur halb so groß wie in Welmont, und die Lehrer beim Förderunterrichtsprogramm arbeiten richtig gut mit Charlie. Er kann es kaum erwarten, mit dem Schulteam in diesem Winter endlich Snowboard zu fahren. Lucy liebt ihre neue Lehrerin und Hannah, ihre neue beste Freundin. Und Linus hat sich problemlos in seine neue Kindertagesstätte eingewöhnt. Bob bringt ihn jeden Morgen vor der Arbeit hin, und entweder Chris oder Kim vom NEHSA holen ihn ab und bringen ihn mir um 14.00 Uhr nach Hause.
    Ich vermisse Heidi. Sie hat versprochen, in den Februarferien mit ihrer ganzen Familie für eine Woche zum Ski- und Snowboardfahren nach Cortland zu kommen.
    Ich vermisse das Starbucks. Das B&C’s ist noch immer geschlossen. Wenigstens haben wir die Impressa.
    Ich vermisse es, einfache Dinge problemlos tun zu können, wie zum Beispiel zu lesen, zu tippen, mich zu rasieren, mich anzuziehen, Papier mit der Schere zu schneiden, ein Kopfkissen neu zu beziehen oder ein Hemd umzukrempeln, das verkehrt herum ist.
    Ich vermisse das Autofahren und die Unabhängigkeit, die es bedeutet. Bob bringt mich morgens zum Mount Cortland, und Mike oder jemand anders vom NEHSA fährt mich nach Hause, aber ich vermisse es, kommen und gehen zu können, ohne die Beifahrerin von jemandem zu sein.
    Ein kleiner Prozentsatz von Leuten mit linksseitigem Neglect erholt sich schließlich so weit, dass die Betroffenen wieder sicher Auto fahren können. Bob ist nach wie vor unermüdlich in seinem Zuspruch. Letzten Montag ist er vor der Arbeit auf den leeren Parkplatz der Kirche eingebogen und hat mich ermuntert, es einmal zu versuchen. Nachdem wir die Plätze getauscht hatten, habe ich mich angeschnallt (etwas, was ich vor sechs Monaten noch nicht gekonnt hätte), habe von der Park- in die Drivestellung geschaltet und den rechten Fuß sachte von der Bremse aufs Gaspedal gesetzt. Wir waren gerade erst losgerollt, als Bob »Stopp!« schrie. Ich trat auf die Bremse, panisch, aber ohne zu begreifen, warum. »Sieh nach links «, rief er. Zuerst bemerkte ich gar nichts, aber dann sah ich es – die Fahrertür stand weit offen. Daher nehme ich an, dass ich noch nicht so weit bin, Auto zu fahren. Eines Tages vielleicht.
    Ich vermisse das Zufußgehen. Noch immer schleppe ich mich an meinem Gehstock vorwärts – allerdings schon viel selbstsicherer und weniger schleppend –, und ich hoffe, bald zu einem normalen Stock übergehen zu können. Hoffnung. Fortschritt. Beides gibt es immer noch.
    Aber von allem, was ich vermisse, vermisse ich am meisten meine Mutter. Was, wenn ich das Knobeln nicht gewonnen hätte? Was, wenn ich mir nicht den Kopf angeschlagen hätte? Was, wenn ich ihre Hilfe nicht gebraucht hätte? Was, wenn sie sie mir nicht angeboten hätte? Ich bin so dankbar, dass ich die Chance hatte, sie kennen- und lieben zu lernen, bevor sie starb.
    Ich nehme den Deckel von der unverpackten Schachtel. Mein Herz quillt über vor Rührung, und Tränen kullern über mein lächelndes Gesicht.
    »Oh Bob, das ist wunderschön.«
    »Komm, lass es mich dir umlegen.«
    Er streckt die Arme über den Tisch aus und nimmt meine linke Hand in seine.
    »So«, sagt er.
    Ich wackele mit der Schulter und höre das Klimpern des Glücksbringer-Armbands an meinem linken Handgelenk. Sieh nach links, such links, geh nach links .
    Ich finde meinen Diamantring und meinen Ehering. Ich und Bob.
    Sieh nach links, such links, geh nach links.
    Ich finde meine rosa Plastikuhr. Meine gute Freundin Heidi.
    Sieh nach links, such links, geh nach links.
    Ich finde mein silbernes
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher