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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben
Autoren: Lisa Genova
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ihrem eigenen Haus am Cape Cod zu verbringen, war es ein seltsames Gefühl, ohne sie hier zu sein. Immer wieder rechnete ich damit, dass sie plötzlich zur Haustür hereinkommen und mir das neueste People -Magazin mitbringen würde, damit, dass ich ihr Lachen hören würde. Das tue ich noch immer. Ich hatte mir vorgestellt, mit Bob und den Kindern im Sommer mindestens ein paarmal hinzufahren, um sie zu besuchen. Ich hatte mir vorgestellt, Zeit mit ihr am Strand zu verbringen, frische Tomaten aus ihrem Garten zu essen und ihre Red-Hat-Freundinnen kennenzulernen. Und wenn wir nicht mit ihr zusammen am Cape wären, hatte ich mir vorgestellt, dann würden wir skypen.
    Jetzt haben wir die erste Novemberwoche, das Farbenmeer des Herbstes und die Mountainbike-Saison sind vorbei, und es wird noch mindestens einen Monat dauern, bis genug Schnee auf dem Berg liegen wird. Es ist ein schläfriger Monat in einer Stadt, die sowieso das ganze Jahr über träge ist, aber das macht mir nichts aus. Bob und ich sitzen an unserem Lieblingstisch am Kamin im Cesca’s. Wir mussten nicht reservieren, wir hatten kein Problem damit, genau vor dem Restaurant einen Parkplatz zu finden, und wir mussten nicht auf unseren Lieblingstisch warten. Wir sind die einzigen beiden Gäste hier, was zum Teil daran liegt, dass es noch so früh am Abend ist. Aber auch später wird das Lokal zu keinem Zeitpunkt brechend voll sein.
    Bob schiebt eine kleine weiße Schachtel über den Tisch.
    »Was ist das?«, frage ich. Zu diesem Anlass hatte ich kein Geschenk erwartet.
    »Mach es auf«, sagt er.
    Wir sitzen hier, um das einjährige Jubiläum des Tages zu feiern, an dem ich meinen Autounfall überlebt habe. Wir haben uns bewusst entschieden, an diesem Tag zu feiern und uns nicht wehmütig zu fragen: Was wäre, wenn … Was wäre, wenn ich das Knobeln nicht gewonnen hätte? Was, wenn es nicht geregnet hätte? Was, wenn ich nicht versucht hätte zu telefonieren? Was, wenn ich früher aufgesehen hätte? Was, wenn ich mir nicht den Kopf angeschlagen hätte? Wir sind hier, um das Leben zu feiern, das wir haben – nicht, um das Leben zu betrauern, das wir verloren haben. Aber bevor ich Bobs Geschenk aufmache, muss ich unwillkürlich über beides nachdenken.
    Ich vermisse meinen alten Job bei Berkley. Ich vermisse Richard und Jessica, die brillanten Berater, das Gefühl, einen scheinbar unmöglichen Tag zu meistern, interessante Projekte mit Mitarbeitern zu besetzen, die Rekrutierungsphase, die Karriereentwicklung zu managen und bei alledem richtig gut zu sein. Aber ich vermisse nicht das ständige Pendeln, das Reisen, die Arbeitszeiten und den Stress, mit dem das alles verbunden war.
    Ich liebe meinen neuen Job beim NEHSA, und ich bin begeistert von Mike und den ganzen ehrenamtlichen Mitarbeitern, einer Gruppe unterschiedlichster Leute, die so viel Herz haben, wie man es sich nur vorstellen kann. Und ich liebe meine Arbeitszeiten. Im Allgemeinen bin ich montags bis freitags von 8.00 Uhr bis mittags dort, und normalerweise arbeite ich zusätzlich noch fünf Stunden die Woche zu Hause, aber es gibt auch Tage, an denen ich alles von meinem Wohnzimmersofa aus erledige. Ich liebe diese Arbeit als solche. Sie ist herausfordernd und wichtig. Und ich bin richtig gut darin. Ich arbeite jetzt seit etwa zwei Monaten dort, und ich musste noch kein einziges Mal weinen. Ich nehme nicht an, dass ich es je tun werde.
    Meine Button-down-Hemden und Kostüme, die nur gereinigt werden können, vermisse ich nicht. Beim NEHSA herrscht eine streng legere Kleiderordnung. Aber ich vermisse meine Stöckelschuhe.
    Ich vermisse meinen alten Gehaltsscheck und das Gefühl von Stolz, Macht und Geltung, das er mir vermittelt hat. Jetzt verdiene ich weniger. Viel weniger. Aber was ich an Dollars eingebüßt habe, das habe ich an Zeit gewonnen. Jetzt habe ich nachmittags Zeit, um Charlie und Lucy bei ihren Hausaufgaben zu helfen, um mit ihnen Wii zu spielen, um Charlies Fußballspiele zu sehen und mit Linus ein Nickerchen zu machen. Und ich kann es kaum erwarten, nachmittags Snowboard zu fahren. Ich habe Zeit, ein Porträt von Lucy zu malen (mein einziges Kind, das lange genug still sitzt) oder die Äpfel, die wir auf der Obstplantage hier gepflückt haben. Ich habe Zeit, Romane zu lesen, zu meditieren, zu beobachten, wie die Hirsche durch den Garten stolzieren, und jeden Tag mit meiner Familie zu Abend zu essen. Weniger Geld, mehr Zeit. Bis jetzt war der Tausch jeden Penny wert.
    Keiner von uns
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