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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben
Autoren: Lisa Genova
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Eismann!«, fordert auch Charlie.
    »Die Stimmen sind ausgezählt, Schatz. Ich bin Vermonts neuer Eismann. Ich werde einen weißen Laster und einen Hut brauchen.«
    Ich pruste wieder los, als ich mir Bob mit dem Hut vorstelle. Und mit roten Hosenträgern.
    Es tut gut, so über dieses Thema herumzualbern. Unsere Gespräche über Bobs Job und die Vor- und Nachteile von Welmont gegenüber Cortland waren angespannt und belastend und sind ohne Ergebnis geblieben. Inzwischen steht er der Idee immerhin offen gegenüber und hält aktiv nach einem Job in Vermont Ausschau. Aber er ist wählerisch. Wenn er schon in Boston nichts gefunden hat, was ihm angemessen erschien, bin ich mit jedem neuen Tag weniger zuversichtlich, dass er hier oben irgendetwas finden wird, was für ihn akzeptabel ist.
    Wir biegen in unsere Auffahrt ein, und Bob hilft mir aus dem Wagen, während der Motor noch läuft.
    »Schaffst du’s ab hier allein?«, fragt er, als er mir meinen Gehstock reicht.
    »Ja, na klar. Bringst du mir ein bisschen Fudge mit?«
    »Sollst du haben. Ich warte noch, bis du sicher im Haus bist.«
    Ich gehe den Kiesweg vor bis zur Haustür. Dort lasse ich den Gehstock los, drehe den Knauf und drücke die Tür auf. Dann drehe ich mich noch einmal um und winke Bob zum Abschied, während er aus der Auffahrt rollt. Inzwischen kann ich immer besser und selbstsicherer aufrecht stehen, ohne mich auf den Stock zu verlassen oder mich irgendwo festzuhalten, und es ist ein fantastisches Gefühl, auch nur ein paar erfolgreiche Sekunden auf den eigenen zwei Beinen zu stehen.
    Als ich durch den Windfang gehe, höre ich ein schrilles Pfeifen. Es klingt wie das Pfeifen von einem der batteriebetriebenen Züge von Linus, aber er sollte jetzt mitten in seinem dreistündigen Mittagsschlaf sein. Er sollte nicht wach sein und mit Zügen spielen.
    »Mom?«, rufe ich, aber nicht zu laut für den Fall, dass er doch schläft, wie er es soll.
    Ich gehe ins Wohnzimmer. Meine Mutter schläft auf dem Sofa. Linus muss oben in seinem Gitterbettchen sein. Gut. Aber hier drinnen ist das Pfeifen noch lauter zu hören. Und konstant. Vielleicht ist der Knopf an einem seiner elektrischen Züge gedrückt und klemmt. Ich sehe mich im Wohnzimmer nach dem Zug um, aber ich kann ihn nirgends entdecken. Das Zimmer ist ordentlich, Linus’ Spielsachen sind alle weggeräumt. Ich überprüfe den Fernseher. Er ist ausgeschaltet.
    Ich schlurfe am Stock hinüber zu Linus’ Spielkiste und lausche. Das Pfeifen scheint nicht von Linus’ Spielsachen zu kommen. Noch immer lausche ich und versuche das Geräusch zu orten. Doch ich komme nicht dahinter. Ich bin eher neugierig, was zum Teufel das ist, als verärgert oder besorgt deswegen. Es ist nicht so laut, dass es Linus oder meine Mutter stört, und ich bin sicher, in meinem Schlafzimmer würde ich es gar nicht hören. Aber was ist es?
    Ich schleppe mich an meinem Gehstock in die Küche und lausche. Das Geräusch kommt eindeutig von hier drinnen. Ich öffne und schließe den Kühlschrank. Nein, das ist es nicht. Ich schaue auf den Boden, den Tisch und den Küchentresen, suche nach einem von Linus’ Zügen. Alles ist aufgeräumt. Keine Züge. Kein elektronisches Spielzeug. Keine Handys. Keine iPods.
    Ich gucke auf die Herdoberfläche. Nichts. Dann fällt mir ein, dass ich auch links suchen sollte, und ich entdecke den Teekessel auf einer leuchtend roten Platte. Dampf entweicht aus seinem Schnabel. Ich schaue noch einmal auf den Tresen, denke diesmal daran, links zu suchen, und sehe den leeren Becher meiner Mutter und den Faden mit dem Papierschild ihres Teebeutels über den Rand hängen.
    Mir rutscht das Herz in die Hose, und meine Haut wird feuchtkalt. Ich schalte den Herd aus und stelle den Teekessel nach rechts. Das Pfeifen hört auf.
    Ich schlurfe am Stock zurück ins Wohnzimmer. Ich lausche. Alles ist still. Ich setze mich zu meiner Mutter aufs Sofa, und ich weiß, noch bevor ich ihre Hand halte, dass sie nicht schläft.

NEUNUNDDREISSIGSTES KAPITEL
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    Wir haben unser Haus in Welmont verkauft und sind im Juni nach Cortland gezogen, nachdem Charlies und Lucys Schuljahr zu Ende war. Bob hat sich den Sommer frei genommen, Charlie und Lucy waren vormittags im YMCA-Ferienlager, nachmittags haben meistens alle drei Kinder im Garten gespielt oder sind im Lake Willoughby geschwommen, und ich habe in demselben See mit dem Sommerfreizeitprogramm des NEHSA Kajak fahren gelernt. Obwohl meine Mutter ohnehin immer vorhatte, den Sommer in
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