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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian
Autoren: Abbitte
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seinen Händen barg. Ob er noch einmal jene einsame, schreckliche Zeit nach der Scheidung seiner Eltern durchlebte? Die Zwillinge hatten sich so darauf gefreut, an jenem Abend in der Bibliothek mitspielen zu dürfen, und nun war das Stück aufgeführt worden, mit vierundsechzig Jahren Verspätung, und Pierrots Bruder war schon lange tot.
Man half mir aus meinem bequemen Sessel, und ich hielt eine kleine Dankesrede, gab mir Mühe, ein greinendes Baby weiter hinten im Saal zu übertönen, und versuchte, jenen heißen Sommer des Jahres 1935 heraufzubeschwören, in dem meine Vettern und meine Kusine aus dem Norden gekommen waren. Dann wandte ich mich an die Schauspieler und sagte ihnen, daß unsere Aufführung mit ihrer nicht hätte mithalten können. Pierrot nickte eifrig. Ich erklärte, es sei allein mein Fehler gewesen, daß die Proben damals abgebrochen worden waren, da ich mittendrin beschlossen hatte, Romanschriftstellerin zu werden. Nachsichtiges Gelächter, noch mehr Applaus, und Charles kündigte an, daß nun das Essen serviert würde. Und so nahm ein angenehmer Abend seinen Lauf – das lebhafte Mahl, bei dem ich sogar einen Schluck Wein trank, die Geschenke, danach Bettzeit für die Kleinen, während ihre größeren Geschwister sich vor den Fernseher setzen durften. Zum Kaffee dann Reden und reichlich gutmütiges Gelächter, und gegen zehn Uhr begann ich, an mein schönes Zimmer oben zu denken, nicht, weil ich müde war, sondern weil es mich erschöpfte, in Gesellschaft und im Mittelpunkt von soviel Aufmerksamkeit zu sein, auch wenn sie noch so liebenswürdig gemeint war. Eine weitere halbe Stunde verging damit, sich zu verabschieden oder sich gute Nacht zu wünschen, ehe Charles und seine Frau Annie mich schließlich zu meinem Zimmer begleiteten.
Jetzt ist es fünf Uhr früh, und ich sitze immer noch am Schreibtisch und denke über die seltsamen letzten beiden Tage nach. Es stimmt, daß die Alten keinen Schlaf brauchen – wenigstens nicht in der Nacht. Ich muß noch so vieles überlegen, und bald, vielleicht noch innerhalb eines Jahres, wird mir der nötige Verstand dazu fehlen. Ich denke über meinen letzten Roman nach, über jenen, der mein erster hätte sein sollen. Über die früheste Version vom Januar 1940, über die letzte vom März 1999 und über das halbe Dutzend Überarbeitungen, das es dazwischen gegeben hat. Die zweite Überarbeitung im Juni 1947, die dritte… wen interessiert das noch? Nach neunundfünfzig Jahren habe ich meine Auftragsarbeit beendet. Da war unser Verbrechen – Lolas, Marshalls –, und mit der zweiten Version hatte ich begonnen, es zu beschreiben. Ich hielt es für meine Pflicht, nichts zu verheimlichen, weder Namen noch Orte, noch die genauen Umstände – ich habe es für die Nachwelt festgehalten. Doch aus juristischen Gründen, so wurde mir von verschiedenen Verlegern im Laufe der Jahre bescheinigt, können meine forensischen Memoiren nicht veröffentlicht werden, solange meine Mitverbrecher noch leben. Verleumden darf man nur sich selbst und die Toten. Seit den späten vierziger Jahren sind die Marshalls regelmäßig vor Gericht gezogen, um ihren guten Namen mit kostspieliger Hartnäckigkeit zu verteidigen. Allein aus ihrer Portokasse könnten sie ein Verlagshaus in den Ruin treiben. Fast möchte man glauben, sie hätten etwas zu verbergen. Glauben, gewiß, doch keinesfalls durfte man es niederschreiben. Die naheliegenden Vorschläge wurden gemacht – verschweigen, verzerren, verstellen. Den Schleier der Phantasie vorziehen! Wozu sind Schriftsteller schließlich da? Treib es soweit wie nötig, schlag dein Lager haarscharf außerhalb ihrer Reichweite auf, dort, wo die Fingerspitzen der Justiz nicht hinlangen können. Doch niemand kennt die exakte Distanz, ehe nicht das Urteil verkündet wurde. Um aber auf Nummer Sicher zu gehen, müßte man unklar und nichtssagend sein. Ich weiß, ich kann erst veröffentlichen, wenn sie tot sind. Und seit heute morgen habe ich mich damit abgefunden, daß ich dies nicht mehr erleben werde. Es reicht nicht, wenn nur einer von ihnen stirbt. Selbst wenn Lord Marshalls knochengeschrumpftes Konterfei endlich unter den Todesanzeigen auftauchte, würde sich meine Kusine aus dem Norden den Vorwurf eines kriminellen Komplotts nicht gefallen lassen.
    Da war das Verbrechen. Aber da waren auch die Liebenden. Liebende und ihr Happy-End haben mich die ganze Nacht beschäftigt. Der sinkenden Sonne wir entgegenziehn. Unglücklich gewählte Inversion.
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