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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian
Autoren: Abbitte
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sämtliche Bücher und auch alle Regale aus der Bibliothek entfernt worden waren. Deshalb war mir der Raum soviel größer vorgekommen, als ich ihn in Erinnerung hatte. Der einzige Lesestoff waren die Country-Zeitschriften in den Ständern am Kamin. Psst zischelte es, Stühle scharrten, und ein Junge mit schwarzem Umhang stand vor uns. Ein blasses Gesicht, Sommersprossen, rote Haare – unverkennbar ein junger Quincey. Ich schätzte ihn auf etwa neun oder zehn Jahre. Er war von zartem Körperbau, was seinen Kopf noch größer wirken ließ und ihm ein ätherisches Aussehen verlieh. Doch schaute er selbstbewußt drein, als er sich im Saal umblickte und darauf wartete, daß sein Publikum zur Ruhe kam. Dann reckte er sein Elfenkinn, füllte die Lungen und hob mit klarer, reiner Sopranstimme zu sprechen an. Ich hatte mit einem Zaubertrick gerechnet, doch was ich zu hören bekam, wirkte wie ein Wunder.
    Dies ist der unbesonnenen Arabella Geschichte, Die mit einem fremdländischen Bösewichte Unerlaubt nach Eastbourne echappierte, Was die Eltern ziemlich konsternierte,
Um dort, kaum angekommen, der Paupertät
    anheimzufallen, Bis auch der letzte Pfennig ging perdü…
    Plötzlich stand es direkt vor mir, dieses kokette, übereifrige, eingebildete kleine Mädchen, und es war auch nicht tot, denn als die Leute bei »echappierte« anerkennend kicherten, machte mein schwaches Herz – lächerliche Eitelkeit! – einen kleinen Sprung. Der Junge sprach seinen Text mit elektrisierender Eindringlichkeit und einem hinreißenden Anflug jenes Dialektes, den meine Generation Cockney nannte, obwohl ich längst nicht mehr zu sagen vermocht hätte, worauf heutzutage ein halb verschlucktes ›t‹ verwies. Ich wußte, es waren meine Worte, doch konnte ich mich kaum an sie erinnern, und bei all den Fragen, all den Gefühlen, die auf mich einstürmten, fiel es mir schwer, mich zu konzentrieren. Wo hatten sie das Stück aufgetrieben, und war diese unheimliche Selbstsicherheit das Symptom einer anderen Zeit? Ich schaute zu Pierrot, meinem Nachbarn. Er hielt ein Taschentuch in der Hand und tupfte sich Tränen aus den Augenwinkeln; ich glaube nicht, daß er dies nur aus urgroßväterlichem Stolz tat. Außerdem nahm ich an, daß dies seine Idee gewesen war. Der Prolog setzte zu seinem vernunftbestimmten Höhepunkt an:
    Für dies fortüne Ding dämmert der süße Tag Der Hochzeit mit dem Fürstgemahl.
Doch seid gewarnt,
Denn Arabella mußte fast zu spät erfahr’n, Daß erst kontempliere, wer spekulieret auf der Liebe Wahn.
    Wir brachen in lärmenden Beifall aus. Es waren sogar einige vulgäre Pfiffe zu hören. Dieses Wörterbuch, mein Oxford Concise. Wo es jetzt wohl war? Im Norden Schottlands? Ich wollte es wiederhaben. Der Junge verbeugte sich, wich einige Schritte zurück, und vier weitere Kinder gesellten sich zu ihm, die von mir unbemerkt in dem gewartet haben mußten, was man die Kulisse nennen mochte.
Und so begannen die Heimsuchungen Arabellas mit einem Abschied von den besorgten, betrübten Eltern. In der Heldin erkannte ich gleich Leons Urenkelin Chloe wieder. Was für ein hübsches, ernsthaftes Mädchen sie mit ihrer vollen, tiefen Stimme und dem spanischen Blut ihrer Mutter doch geworden war. Mir fiel ein, daß ich zu ihrer ersten Geburtstagsparty eingeladen gewesen war, und die schien erst wenige Monate zurückzuliegen. Ich sah ihr zu, wie sie überzeugend in Armut und Verzweiflung stürzte, verlassen vom verruchten Fürsten – jenem, der in schwarzem Umhang den Prolog gesprochen hatte. Nach kaum zehn Minuten war es vorbei. In der Erinnerung, verzerrt von kindlichem Zeitgefühl, war es mir stets so lang wie ein Shakespeare-Stück vorgekommen. Ich hatte völlig vergessen, daß Arabella und ihr heilkundiger Fürst nach der Hochzeit Arm in Arm vortreten, um dem Publikum ein letztes Verspaar mit auf den Weg zu geben:
    Nun also der Beginn einer Liebe am Ende unserer Mühen,
Daher Lebet wohl! Freunde, der sinkenden Sonne wir
entgegenziehn!
    Nicht gerade mein bester Reim, dachte ich. Doch der ganze Saal, Leon, Pierrot und mich selbst ausgenommen, sprang auf, um zu applaudieren. Wie routiniert diese Kinder doch waren, selbst die Verbeugungen klappten wie am Schnürchen. Hand in Hand standen sie in einer Reihe, warteten auf ein Signal von Chloe, traten zwei Schritte zurück, kamen wieder vor und verbeugten sich erneut. In der allgemeinen Begeisterung fiel niemandem auf, daß Pierrot, von Gefühlen völlig überwältigt, das Gesicht in
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