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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian
Autoren: Abbitte
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das ihn immer schon erwartet hatte.
Was Lola betraf – meine kettenrauchende, auf großem Fuß lebende Kusine –, so war sie immer noch rank und schlank wie ein Windhund und ihrem Mann treu ergeben. Wer hätte sich das je träumen lassen? Offenbar hatte sie genau gewußt, wo Barthel den Most holt, wie man so sagt. Das mag verbittert klingen, doch mußte ich einfach daran denken, als ich zu ihr hinüberschaute. Sie trug einen scharlachroten Fedora mit breiter Krempe zu ihrem Zobelmantel. Eher gewagt als vulgär. An die achtzig Jahre, aber immer noch hochhackige Schuhe. Und die klapperten über das Pflaster, als steckte eine jüngere Frau darin. Von einer Zigarette nichts zu sehen. Eher weckte ihr Anblick Gedanken an Beautyfarm und Höhensonne. Sie war jetzt größer als ihr Mann und ihre Vitalität nicht zu übersehen. Aber irgendwie hatte sie auch etwas Groteskes an sich – oder versuchte ich bloß, sie schlechter zu machen, als sie war? Sie hatte ihr Make-up ein wenig dick aufgetragen, wirkte rund um die Mundwinkel ziemlich aufgedonnert und ging allzu freigebig mit Hautcreme und Gesichtspuder um. Ich bin in dieser Hinsicht stets sehr zurückhaltend gewesen, weshalb ich mich in derlei Dingen keine verläßliche Zeugin nennen kann, aber ich fand, sie hatte etwas von einer Bilderbuchhexe an sich – die hagere Gestalt, der schwarze Mantel, die grellroten Lippen. Noch eine Zigarettenspitze, einen Schoßhund unterm Arm, und sie hätte als Cruella de Vil durchgehen können.
In wenigen Sekunden waren wir. aneinander vorbeigegangen. Ich stieg weiter die Treppe hinauf, blieb dann, vor dem Regen geschützt, unterm Vordach stehen und sah zu, wie die vier zum Rolls gingen. Lord Marshall wurde als erstem in den Wagen geholfen, und jetzt sah ich auch, wie gebrechlich er tatsächlich war. Er konnte sich nicht bücken und vermochte nicht das eigene Gewicht vom einen auf den anderen Fuß zu verlagern. Man mußte ihn regelrecht auf seinen Platz hieven. Die gegenüberliegende Tür wurde für Lady Lola aufgehalten, die behend im Innern verschwand. Ich sah dem Wagen nach, wie er sich in den Verkehr einfädelte, dann trat ich ins Museum. Ihr Anblick hatte sich mir wie ein schwerer Stein aufs Herz gelegt, und ich versuchte, nicht daran zu denken, es nicht zu spüren. Mich beschäftigte schließlich schon genug. Doch Lolas körperliche Verfassung ging mir nicht aus dem Sinn, als ich meine Tasche an der Garderobe abgab und auf das fröhliche Guten Morgen der Pförtner antwortete. In diesem Haus ist es Vorschrift, daß man zum Lesesaal in einem Lift hinaufeskortiert wird, dessen beengte Verhältnisse in meinen Augen ein wenig leichte Konversation unerläßlich machen. Doch während ich anfing – schreckliches Wetter heute, aber zum Wochenende soll’s besser werden –, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, in den fundamentalen Kategorien der Gesundheit über meine Begegnung dort draußen nachzudenken: Paul Marshall könnte ich vielleicht noch überleben, doch Lola würde ganz bestimmt älter werden als ich. Die Folgen sind klar. Das Thema beschäftigt uns seit Jahren. Wie mein Verleger einmal sagte: Veröffentlichen heißt prozessieren. Doch würde ich mich dem kaum noch aussetzen können. Es gab schon genug, worüber ich nicht nachdenken wollte. Außerdem war ich hergekommen, um zu arbeiten. Eine Zeitlang schwatzte ich mit dem Bibliothekar und gab ihm dann den Packen Briefe, die Mr. Nettle mir über Dünkirchen geschrieben hatte – und sie wurden überaus dankbar entgegengenommen. Man wird sie zu den übrigen Papieren legen, die ich ihm schon überreicht habe. Der Bibliothekar hatte mir einen gefälligen alten Oberst vom East Kent Regiment aufgetrieben, selbst eine Art Amateurhistoriker, der die entsprechenden Seiten meines Manuskriptes gelesen und mir seine Kommentare zugefaxt hatte. Seine hilfreichen, manchmal mürrisch klingenden Anmerkungen wurden mir nun anvertraut, und sie hielten mich zum Glück völlig gefangen.
Unter keinen (zweimal unterstrichen) Umständen würde ein Soldat der britischen Armee »schnell, schnell« rufen. Das käme nicht einmal in der deutschen Armee vor. Der korrekte Befehl lautet »marsch, marsch«.
Ich liebe diese Kleinigkeiten, diese pointillistische Annäherung ans Realistische, die Korrekturen der Details, die zusammengenommen solch tiefe Befriedigung verschaffen.
Niemand würde je daran denken, »fündundzwanzig Pfund Kanonen« zu sagen. Entweder waren es die »25-Pfünder« oder das
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