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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian
Autoren: Abbitte
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Erinnerungen, aus Dünkirchen, zurück von den Straßen, die dorthin führten. Als Cecilia sechzehn und sie selbst noch ein Kind von sechs Jahren gewesen war, hatte sie manchmal, wenn irgendwas schrecklich schiefgelaufen war, so zu ihr geredet. Oder in der Nacht, wenn Cecilia sie vor einem Alptraum rettete und mit in ihr Bett nahm. Damals waren es die gleichen Worte gewesen. Komm zurück. Es war nur ein böser Traum, Briony. Komm zurück. Wie rasch doch diese bedingungslose Familienliebe vergessen war. Briony glitt hinab, durch braunes, suppiges Licht, fast bis auf den Grund. Niemand sonst war zu sehen, und die Luft stand plötzlich still. Gefaßt dachte sie an das, was sie zu tun hatte. Die Nachricht an ihre Eltern und die eidesstattliche Aussage würden nicht viel Zeit kosten. Den Rest des Tages hatte sie frei. Und sie wußte, was von ihr erwartet wurde. Nicht bloß ein Brief, nein, ein neuer Entwurf, eine Abbitte, und sie war bereit.
      
    BT

    London 1999

    W as ist dies doch für eine seltsame Zeit. Heute, am Morgen meines siebenundsiebzigsten Geburtstages, beschloß ich, ein letztes Mal die Bibliothek im Imperial War Museum in Lambeth aufzusuchen. Das paßte zu meiner eigenartigen Stimmung. Der Lesesaal oben in der Kuppel des Gebäudes gehörte früher einmal zur Kapelle des Royal Bethlehem Hospitals – der alten Nervenheilanstalt Bedlam also. Wo einst die Schwachsinnigen ihre Gebete verrichteten, erforschen heute die Gelehrten den kollektiven Schwachsinn des Krieges. Der Wagen, den mir die Familie schicken wollte, würde erst nach dem Mittagessen vorfahren. In der Zwischenzeit wollte ich mich mit einer Überprüfung letzter Einzelheiten ablenken und mich vom Bibliothekar und den immer gutgelaunten Pförtnern verabschieden, die in diesen winterlichen Wochen so oft mit mir im Fahrstuhl nach oben und wieder nach unten gefahren waren. Außerdem wollte ich dem Archiv das Dutzend dicker Briefe vom alten Mr. Nettle überlassen. Ich schätze, es war eine Art Geburtstagsgeschenk an mich selbst, diese ein, zwei Stunden, in denen ich mir einreden konnte, fleißig zu arbeiten, während ich jene kleinen Aufgaben des Ordnens und Sortierens erledigte, die am Ende anfallen und einfach dazugehören, wenn man sich nur ungern von etwas trennt. In genau der gleichen Stimmung hatte ich den gestrigen Nachmittag in meinem Arbeitszimmer zugebracht, hatte die diversen Entwürfe geordnet und datiert, das fotokopierte Quellenmaterial beschriftet, die geliehenen Bücher zur Rückgabe bereitgelegt und alles im richtigen Aktenschuber verstaut. Ich hatte schon immer eine Vorliebe für ordentliche Abschlüsse.
Es war zu kalt und zu feucht, und mir ging zuviel durch den Kopf, deshalb verzichtete ich auf Bus oder Untergrundbahn und nahm mir am Regent’s Park ein Taxi. Während der Wagen durch Londons Stadtmitte kroch, dachte ich an Bedlams traurige Insassen, die früher einmal Anlaß zu allgemeiner Belustigung geboten hatten, und ein wenig rührselig überlegte ich, daß ich mich bald selbst zu ihnen zählen konnte. Die Ergebnisse der Untersuchung lagen vor. Ich war tags zuvor bei meinem Arzt gewesen, und er hatte keine guten Neuigkeiten für mich. So jedenfalls drückte er sich aus, als ich mich hingesetzt hatte. Meine Kopfschmerzen, das Druckgefühl an der Schläfe, hatten eine spezifische und schlimme Ursache. Er wies auf einige körnige Schmierflecken auf dem Hirnscan. Ich merkte, daß die Bleistiftspitze in seiner Hand zitterte, und fragte mich, ob er selbst auch an einer nervlichen Störung litt. Meine Laune des »Tötet den Überbringer schlechter Nachrichten« ließ es mich jedenfalls hoffen. Ich würde, so sagte er, eine Reihe winziger, kaum wahrnehmbarer Schlaganfälle erleiden. Der Verlauf sei langsam, aber mein Hirn, mein Verstand stelle die Arbeit ein. Die kleinen Erinnerungslücken, die uns alle ab einem gewissen Alter zu schaffen machen, würden allmählich immer kraftraubender und auffälliger, bis ich sie schließlich nicht mehr wahrnähme, weil mir die Fähigkeit abhanden gekommen sei, überhaupt irgend etwas zu begreifen. Mir werden die Tage der Woche fehlen, die Ereignisse vom Vormittag, selbst das, was vor zehn Minuten geschah. An meine Telefonnummer, meine Adresse, meinen Namen werde ich mich nicht mehr erinnern können, auch nicht daran, was ich aus meinem Leben gemacht habe. In zwei, drei oder vier Jahren kann ich dann selbst meine ältesten Freunde nicht wiedererkennen, und wenn ich morgens aufwache, weiß ich nicht
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