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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian
Autoren: Abbitte
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strenge, hagere, angemalte Gesicht, ihr resoluter Schritt, die gefährlich hochhackigen Schuhe. Wie gelenkig sie in den Rolls gestiegen war. Versuchte ich vielleicht, es mit ihr aufzunehmen, als ich auf dem Teppich zwischen Kamin und Chesterfield-Sofa hinund hereilte? Ich hatte immer angenommen, daß die Zigaretten, das dekadente Leben ihr Ende sein würden. Noch als wir um die Fünfzig waren, war ich davon überzeugt. Doch mit achtzig hatte sie dann diesen gierigen, wissenden Blick. Stets war sie das überlegene ältere Mädchen geblieben, mir immer einen Schritt voraus. In der allerletzten bedeutsamen Angelegenheit aber würde ich ihr vorangehen, und sie wird weiterleben und ihre hundert Jahre alt werden. Zu Lebzeiten werde ich jedenfalls nicht veröffentlichen können.
    Der Rolls hatte mir offenbar den Kopf verdreht, aber der Wagen, der schließlich mit fünfzehn Minuten Verspätung kam, bot auch wirklich einen zu traurigen Anblick. Normalerweise schenkte ich dem keine Beachtung. Auf dem Rücksitz des schmuddeligen Minicabs lag ein künstliches Zebrafell. Michael, der Fahrer, ein fröhlicher Bursche von den Westindischen Inseln, kümmerte sich um meinen Koffer und schob eigens für mich umständlich den Beifahrersitz nach vorn. Und sobald einmal klargestellt war, daß ich mich keinesfalls, egal in welcher Lautstärke, mit der Stakkatomusik aus den Boxen auf der Ablage hinter meinem Kopf abfinden würde und Michael nicht mehr eingeschnappt war, verstanden wir uns ausgezeichnet und unterhielten uns über unsere Familien. Seinen Vater hatte Michael nie kennengelernt, seine Mutter war Ärztin am Middlesex Hospital. Er selbst hatte Jura an der Leicester University studiert und ging jetzt an die London School of Economics, um dort eine Doktorarbeit über Recht und Armut in der Dritten Welt zu schreiben. Während wir London auf dem schauderhaften Westway hinter uns ließen, gab er mir die Kurzfassung seiner Arbeit: Kein Eigentumsrecht, daher kein Kapital, also kein Wohlstand.
»Da hör sich einer den Anwalt an«, sagte ich. »Klingt wie eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in eigener Sache.«
Er lachte höflich, hielt mich aber ganz offensichtlich für ziemlich dämlich. Heutzutage ist es fast unmöglich geworden, von der Art der Wortwahl, der Kleidung oder vom Musikgeschmack der Menschen auf ihren Bildungsgrad zu schließen. Das Beste ist, man behandelt jeden, der einem über den Weg läuft, wie einen gestandenen Intellektuellen.
Nach zwanzig Minuten hatten wir genug geredet, und als der Wagen über die Autobahn rollte und das Motorengeräusch in ein stetes Brummen überging, döste ich abermals ein. Als ich aufwachte, fuhren wir über eine Landstraße, und ein schmerzhafter Druck lastete auf meiner Stirn. Ich holte drei Aspirin aus der Handtasche, zerkaute sie angewidert und schluckte sie herunter. Welchen Teil meines Verstandes, meiner Erinnerung hatte ich im Schlaf durch einen kleinen Hirnschlag verloren? Ich würde es nie erfahren. Erst jetzt, auf dem Rücksitz dieses lärmenden kleinen Autos, überkam mich zum ersten Mal so etwas wie Verzweiflung. Panik wäre ein zu starkes Wort. Klaustrophobie gehörte dazu, hilflos einem Verfallsprozeß ausgeliefert zu sein, aber auch das Gefühl zu schrumpfen. Ich tippte Michael auf die Schulter und bat ihn, die Musik wieder anzustellen. Er dachte, ich täte es ihm zuliebe, da es bis zu meinem Ziel nicht mehr weit war, und lehnte ab. Doch ich bestand darauf, und so setzte der wummernde, vibrierende Baß wieder ein, überlagert von einem hellen Bariton, der auf Patois im Rhythmus von Kinderreimen oder Hüpfseilliedern sang. Es half. Es amüsierte mich. Es klang unglaublich kindlich, doch bestimmt wurden irgendwelche gräßlichen Gefühlsduseleien besungen. Ich zog es vor, mir die Texte nicht übersetzen zu lassen.
Die Musik lief noch, als wir in die Auffahrt zum Hotel Tilney einbogen. Mehr als fünfundzwanzig Jahre waren vergangen, seit ich zuletzt hier langgefahren war, damals, zu Emilys Beerdigung. Als erstes fiel mir auf, daß die Bäume im Park fehlten, die Riesenulmen, die bestimmt an irgendeiner Krankheit eingegangen waren, und die letzten Eichen, die man gefällt hatte, um einen Golfplatz anzulegen. Wir fuhren langsamer und ließen einige Golfspieler mit ihren Caddies vorüber. Ich konnte mir nicht helfen, aber in meinen Augen waren sie unbefugte Eindringlinge. Rund um Grace Turners ehemaliges Pförtnerhaus standen die Bäume noch, und sobald wir das letzte Buchenwäldchen
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