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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian
Autoren: Abbitte
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in dem es einen Schreibtisch mit anständiger Lampe gab, und war von dem großen Bad mit der Schale getrockneter Blüten und dem Stapel vorgewärmter Handtücher sehr angetan. Es erleichterte mich, nicht jede Veränderung als geschmacklose Verschlechterung empfinden zu müssen – das wird im Alter rasch zur schlimmen Gewohnheit. Ich schaute aus dem Fenster, um das seitlich über den Golfplatz fallende Sonnenlicht zu bewundern, das selbst die kahlen Bäume auf den fernen Hügeln wie poliert wirken ließ. Daß der See nicht mehr da war, ging mir allerdings gegen den Strich, doch ließ er sich eines Tages vielleicht wieder anlegen, und als Hotel beherbergte dieses Gebäude heute sicherlich mehr menschliches Glück als zu jener Zeit, in der ich in ihm gewohnt hatte.
Eine Stunde später, als ich gerade daran dachte, mich umzuziehen, rief Charles an. Er schlug vor, mich um Viertel nach sechs abzuholen und nach unten zu begleiten, da dann alle beisammen sein würden und ich meinen großen Auftritt haben könnte. Und so geschah es, daß ich an seinem Arm in meinem schönsten Kaschmirkleid den großen, L-förmigen Raum betrat und mit allgemeinem Applaus und erhobenen Gläsern von fünfzig Verwandten begrüßt wurde. Mein erster Eindruck sagte mir, daß ich niemanden kannte. Nicht ein einziges vertrautes Gesicht! Ich fragte mich schon, ob dies ein Vorgeschmack auf die Geistesverwirrung sei, die mir bevorstand, als sich einzelne Gestalten herauszuschälen begannen. Man mußte den Jahren einfach einige Zugeständnisse machen, dem Tempo, mit dem sich Kleinkinder in ausgelassene Zehnjährige verwandelten. Mein Bruder war allerdings nicht zu verkennen, krumm und schief in sich zusammengesunken in seinem Rollstuhl, eine Serviette unterm Kinn, um aufzufangen, was vom Champagner danebenging, den man ihm an die Lippen hielt. Als ich mich vorbeugte, um ihm einen Kuß zu geben, gelang ihm ein Lächeln auf dem halben Gesicht, das er noch in seiner Gewalt hatte. Auch Pierrot hatte ich rasch wiedererkannt, kräftig verschrumpelt und mit einer spiegelglatt polierten Glatze, auf die ich gern meine Hand gelegt hätte, verschmitzt wie eh und je und ganz der Familienvater. Es gilt als ausgemacht, daß wir niemals von seiner Schwester reden.
Ich schritt durchs Zimmer, Charles an meiner Seite, der mir die Namen zuflüsterte. Wie wunderbar es doch war, der Mittelpunkt einer solch liebenswürdigen Familienzusammenkunft zu sein. Ich machte mich aufs neue mit den Kindern, Enkeln und Großenkeln von Jackson bekannt, der vor fünfzehn Jahren gestorben war. Allein die beiden Zwillinge hatten fast den ganzen Saal bevölkert. Doch mit seinen vier Ehen und der hingebungsvoll ausgefüllten Vaterrolle hatte Leon sich auch nicht schlecht gehalten. Die Altersspanne reichte von drei Monaten bis zu seinen neunundachtzig Jahren. Und was für ein Stimmengetöse, brummig und schrill zugleich, als die Kellner noch eine Runde Champagner und Limonade brachten. Die älteren Kinder entfernter Vettern und Kusinen begrüßten mich wie lang verschollene Freunde, und jede zweite Person im Saal wollte mir etwas Nettes über meine Bücher sagen. Eine Gruppe bezaubernder Teenager erzählte mir, daß sie meine Romane im Unterricht durchnähmen. Ich versprach sogar, das Manuskript irgendeines abwesenden Sohnes zu lesen. Zettel und Visitenkarten wurden mir in die Hände gedrückt. Auf einem Tisch in einer Saalecke stapelten sich Geschenke, die ich, wie mehrere Kinder anmahnten, noch zu öffnen hatte, bevor sie ins Bett mußten, und nicht erst hinterher. Also gab ich Versprechen, schüttelte Hände, küßte Wangen und Lippen, bewunderte und kitzelte Babys, und gerade als ich dachte, wie gern ich mich irgendwo hinsetzen würde, fiel mir auf, daß Stühle reihenweise nebeneinander aufgestellt wurden. Dann klatschte Charles in die Hände, hob die Stimme, als der Lärm kaum verebben wollte, und kündete an, daß mir zu Ehren vor dem Essen noch etwas Unterhaltung geboten werden würde. Ob wir bitte alle Platz nehmen könnten.
Man brachte mich zu einem Sessel in der ersten Reihe. Neben mir saß der alte Pierrot, der sich mit einer links von ihm sitzenden Kusine unterhielt. Nervöse Stille machte sich breit. Aus irgendeiner Ecke war das aufgeregte Flüstern einiger Kinder zu hören, doch fand ich es taktvoll, gar nicht darauf zu achten. Und während wir warteten, während ich also gleichsam einige Sekunden für mich hatte, schaute ich mich um und nahm erst jetzt richtig wahr, daß
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