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Maya und der Mammutstein

Maya und der Mammutstein

Titel: Maya und der Mammutstein
Autoren: Margaret Allan
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Vertracktheit des Versprechens und seiner Erfüllung.
    Als sie die Augen wieder öffnete, hatten sich die Tiere zurückgezogen, und mit ihnen, nunmehr in der goldenen Stille verhüllt, ihre Mutter, die Mutter von allem.
    Ein Versprechen, ein Geschenk, ein uralter Feind. Ja, sie würde ihren Willen erfüllen, fraglos, so gut sie es vermochte. Und in der Zukunft...
    Doch da erinnerte sie sich an ihre Zukunft, und ein Hauch von Traurigkeit überfiel sie, weil sie diesen Ort des Lichts noch einmal verlassen mußte, um in die Finsternis der äußeren Welt zu reisen.
    Doch es war so befohlen, und sie neigte das Haupt. Die Große Mutter und ihre Begleiter waren im Nebel verschwunden, und nur die Berge, mächtig und ewig, standen Wacht über
    der Ebene und der winzigen Menschenfrau, die dort zitterte, allein, so allein.
    »Ich gehorche«, hauchte Ga -Ya. »Ich gehorche...«
    Sie brauchte beinahe zwei Mondumläufe dafür, doch schließlich war das Schnitzwerk vollendet. Sie legte den Grabstichelstein nieder, der so sorgfältig bearbeitet war und mit dem sie die letzten rauhen Spuren von der fertigen Figur abgeschliffen hatte. Im blendenden Glanz des Großen Lichts - der Hochsommer hier war kurz, aber grell - kniff sie die Augen zusammen und betrachtete ihr Werk.
    Der Knochen, vom Stoßzahn des jungen Mammutbullen genommen, der sie um ein Haar getötet hätte, war hervorragend zum Schnitzen geeignet.
    Sie hatte ihn bearbeitet und geschnitten und geglättet, jede Biegung, jede Linie mit Genauig keit geschaffen und dabei keine Mühe gescheut. Der Stoßzahn, ursprünglich bogenförmig, war nun gerade. Zwei Abbilder des großen Tiers blickten voneinander fort, in der Mitte von einem schmalen verbindenden Stück zusammengehalten. Die beiden kleinen Mammuts waren fast identisch; die Verbindung aus Knochen war so hauchdünn, daß, wenn Ga -Ya das eine Ende der Schnitzerei ergriff und sie auf und ab schwenkte, das andere Ende vibrierte wie ein Blatt im Wind.
    Sie nickte befriedigt. Dies war die beste Arbeit, die sie jemals vollendet hatte, und sie wußte, daß es ihre letzte sein würde. Der kalte Atem des Todes blies durchs Mark ihrer Knochen; die Mammutfiguren - in ihnen aller Zauber, den sie jemals beherrscht hatte - würden ihre letzte Gabe an das Volk des Mammuts sein.
    Sie lächelte, ein zahnloser Ausdruck unendlicher Wärme und Liebe. Die Schnitzerei fühlte sich heiß an in ihrer Hand. Sie ließ den Blick zur grauen Linie des Horizonts schweifen, nickte dem blauen und dem Großen Licht zu, umschloß dann die überaus fein gearbeitete Skulptur mit beiden Händen und schlug damit kräftig auf ihr Knie. Leise krachend trennten sich die beiden geschnitzten Tiere genau dort, wo sie es vorgesehen hatte. Ihre Fähigkeiten hatten ausgereicht.
    »Eins für mich«, flüsterte sie. »Und eins für meine Töchter, für alle meine Töchter.«
    Sie war sechsunddreißig und starb an Altersschwäche. Ihre Zukunft lag hinter ihr, und doch erstreckte sie sich auch in endlose Weiten, eine hauchdünne silberne Linie, die ihr manchmal so erschien, als könne sie auf ihr spielen wie auf einem Instrument.
    Zeit hatte keinerlei Bedeutung. Und doch war Zeit alles. Sie ergriff das Mammut zu ihrer Linken und wickelte es behutsam in ein weiches Lederstückchen ein. Das andere nahm sie in die Hand, genoß die Berührung.
    »Für meine Tochter«, sie holte ein letztes Mal Atem und zwang sich ächzend auf die Füße. Ihre Muskeln protestierten harsch gegen die Anstrengung, doch sie war es zufrieden. All ihre Magie war in dieses letzte, wunderbare Schnitzwerk geflossen. Ein klein wenig Magie würde sie noch behalten; den Rest hatte sie bereits weitergegeben.
    Verschwommen konnte sie vor ihrem geistigen Auge ihre Tochter sehen, die kommen würde. Sie verstand nicht, was sie sagte, doch das erwartete sie auch nicht; daß ihre Tochter leben würde, war genug.
    Zwei Steine. Einen, um ihn zu halten, einen, um ihn weiterzureichen.
    Von diesem einen Stein hing das Schicksal des Universums ab. Sie verstand es nicht, doch das erfüllte sie nicht im geringsten mit Furcht.
    Verstehen war nicht erforderlich, nur Hin nähme.
    Sie hatte die Bürden ihres Lebens allzeit auf sich genommen. So würde es auch ihre Tochter tun, die kommen würde.
    Sie lächelte noch einmal, während sie zu dem Volk hinkte. Zu ihrem Volk. Es nannte sich selbst das Volk des Mammuts. Ga -Ya wußte es besser.
    Sie waren das Volk der Mutter, auch wenn sie es nicht wußten. Noch nicht. 
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