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Mariana

Mariana

Titel: Mariana
Autoren: Monica Dickens
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Weihnachtsmann verkleidet hätte. Alle waren bereits in jene Apathie verfallen, die so eine Reise bei manchen Leuten auslöst, aber Mrs. Shannon vermochte, ganz unbeabsichtigt, die verschlafenste Umgebung wachzurütteln. Auch wenn sie ganz still dasaß, was nicht oft vorkam, strömte sie so viel Leben und muntere Betriebsamkeit aus, als befände sie sich ständig in Hochspannung. Noch bevor sie nach Ealing kamen, war ihr Blick dauernd auf das Abteilfenster gerichtet, das schon ganz beschlagen war, und man sah förmlich die Gedanken hinter ihrer Stirn kreisen.
    «Erlauben Sie?» Damit erhob sie sich und stieg über die Füße des alten Herrn hinweg, um zum Fenster zu gelangen. «Nur einen Spalt — es ist entsetzlich heiß hier drin, nicht wahr?» Sie blickte ihre Reisegefährten fragend an, aber denen schien weder heiß noch kalt zu sein, sie wollten nichts, als in Ruhe ihre Zeitung lesen. Mary zog ihre Beine zurück, um ihrer Mutter nicht im Wege zu sein, und sah, das Kinn auf die Hand gestützt, weiter aus dem Fenster.
    «Ach du liebe Güte, würden Sie mir wohl helfen? Ich glaube, es klemmt —» Der alte Herr schien ein wenig gereizt reagieren zu wollen, aber sie sah ihn mit einem so strahlenden Lächeln an, daß er sich plötzlich um zwanzig Jahre verjüngt und als Kavalier fühlte. Er zog und zerrte keuchend an dem Fenster, das schließlich mit Getöse ganz heruntersauste, worauf er und Mrs. Shannon, sehr zufrieden miteinander, sich wieder hinsetzten und zu plaudern anfingen. Eine der so langweilig aussehenden Frauen fröstelte ganz betont, und ihr Ehemann machte Anstalten, sich den Mantelkragen hochzuschlagen, ohne jedoch von seiner Zeitung aufzublicken. Ein Rußflöckchen wehte durchs Fenster herein und setzte sich auf Marys Nase. Aus den Augenwinkeln konnte sie es sehen, es erschien ihr riesig groß, und sie schielte es ständig an, während sie aus dem Fenster blickte, an dem alles so schnell vorbeiflog, daß man ohnehin schon das Schielen bekam.
    «Vielleicht ist es doch ein bißchen zu weit geöffnet», meinte Mrs. Shannon und stand wieder auf. In rührender Hilflosigkeit rang und kämpfte sie mit dem Gurt, was den alten Herrn abermals auf die Beine brachte, und bis der Fall schließlich zu ihrer Zufriedenheit geregelt war, donnerte der Zug mit der allen Schnellzügen eigenen Herablassung bereits durch Slough Station. Die Frau mit der gehäkelten Kopfbedeckung, die neben Mrs. Shannon saß, bot ihr listigerweise einige Zeitschriften an, und eine Zeitlang herrschte Ruhe und Frieden.
    Mary war sich der Vorgänge im Abteil kaum bewußt. An die Ruhelosigkeit ihrer Mutter gewöhnt, war sie vollauf damit beschäftigt, aus dem Fenster zu sehen, und sie war wie elektrisiert von dem Gedanken, daß jetzt nur noch ein Zugunglück — hier klopfte sie schnell dreimal auf Holz — sie daran hindern könne, nach Charbury zu fahren. Es kamen ihr immer noch fast die Tränen, wenn sie daran dachte, wie schrecklich es das letzte Mal gewesen war, als sie eine Woche vor Beginn der Ferien die Masern bekommen hatte. Verzweifelt hatte sie gegen neununddreißig Grad Fieber angekämpft, mit entzündeten Augen und einem Kopf, der auf das Sechsfache seiner ursprünglichen Größe angeschwollen zu sein schien, bis sie schließlich in der Geografie-Stunde ohnmächtig geworden war. Aber alles Ansehen, das ihr diese Ohnmacht, und daß sie in Decken gehüllt in einem Taxi nach Haus gebracht werden mußte, bei ihren Mitschülern eintrug, konnte sie nicht für eine einzige Minute, die sie in Charbury versäumte, entschädigen.
    Ein anderes Mal hatten ihr die Großeltern mütterlicherseits, die in dumpfer Resignation in einem zur Hälfte unbewohnten Haus in Dulwich lebten, die Osterferien verdorben. Gerade den Tag, bevor sie nach Somerset fahren wollten, hatte sich Großvater für seinen Schlaganfall ausgesucht. Alle Koffer waren bereits gepackt, und ein Zwei-Wochen-Vorrat an Vogelfutter für die Wellensittiche stand bereit, weil man sich nicht darauf verlassen konnte, daß Onkel Geoffrey dafür Geld ausgeben würde. Aber sie konnten nicht aus London weg. Großvater hatte eine Woche gebraucht, bis er starb, und danach waren unzählige Anordnungen zu treffen, so daß Mrs. Shannon in Clarice Hill in Dulwich bleiben mußte, wo sie ihre Mutter vergeblich zu überreden versuchte, das trostlose Haus aufzugeben. Es gab niemanden, der Mary nach Charbury hätte mitnehmen können, denn alle ihre Kusinen, Vettern und Tanten waren bereits dorthin
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