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Mariana

Mariana

Titel: Mariana
Autoren: Monica Dickens
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über ihr Bett gehängt hatte, zeigte einen sehr jungen Mann mit einem runden Gesicht und hellen, lockigen Haaren, und das Lächeln um seinen Mund lag auch in seinen Augen. Es war ein Gesicht, das zum Lachen geschaffen schien, dachte Mary, und das hatte sie eines Abends ihrer Mutter gesagt, als diese an ihr Bett trat, um sie zuzudecken. Mrs. Shannon hatte das Licht ausgemacht und war schnell aus dem Zimmer gegangen, so, als sei sie ärgerlich über irgend etwas. Sie sprach mit Mary nie über ihren Vater, aber Mary studierte oft und sehr gründlich seine Fotografie, wobei sie sich auf ihr Kopfkissen kniete, um sie noch besser sehen zu können. Es war interessant, einen Vater zu haben, der nicht mehr lebte. Sie hatte das nie als traurig empfunden, bis sie in die vornehme Privatschule in der Cromwell Road kam. Miß Carson, die Direktorin, hatte sie nach ihrem Vater gefragt, und als Mary stolz sagte: «Er ist im Krieg gefallen», stieß Miß Carson einen Laut des Bedauerns aus und nahm Mary mit in ihr Arbeitszimmer, das mit Farnen, Palmen und Bambusrohrmöbeln so vollgestopft war, daß man kaum atmen konnte. Miß Carson, die nach Butterbroten roch, hatte Mary auf ihren Schoß gezogen, ihr übers Haar gestrichen und gesagt, daß es sehr, sehr traurig sei, keinen Vater mehr zu haben, aber sie müsse tapfer sein und dürfe nicht um ihn weinen, da er das höchste Opfer gebracht habe, worauf Mary prompt in Tränen ausbrach und herzzerreißend an Miss Carsons spärlichem Busen schluchzte.
    Von nun an konnte sie es kaum mehr ertragen, ihres Vaters Bild zu betrachten. Es war für sie ein weiterer Anlaß zum Weinen — und es gab deren schon viele. Obwohl sie nicht verstand, was die Worte bedeuteten, schienen sie ihr die traurigsten zu sein, die es gab. Wenn sie deswegen weinte, gestand sie es ihrer Mutter nie ein. Sie gab alle möglichen anderen Gründe an, zum Beispiel die Illustration aus , auf der Wendy mit einem Pfeil in der Brust am Boden liegt, oder die Tatsache, daß sie Onkel Geoffrey nicht beim Rasieren Zusehen durfte.
    Geoffrey Payne war Mrs. Shannons älterer Bruder. Als er aus der Besatzungsarmee entlassen wurde und versuchte, den Anschluß an seine bis dahin allerdings recht bescheidene Karriere als Schauspieler zu finden, war er zu seiner Schwester gezogen und, wie das so geht, zog er nicht wieder fort. Er spezialisierte sich auf dümmliche Chargenrollen, die es zu Beginn der zwanziger Jahre in Hülle und Fülle gab, und hatte darin — wohl hauptsächlich seiner äußeren Erscheinung wegen — einen gewissen Erfolg.
    Sein Gesicht war eiförmig, mit fliehender Stirn und fliehendem fliehendem Kinn, mit einer Nase, die gar nicht da hinein paßte und mit so weit vorstehenden Vorderzähnen, daß sie seinen Unterkiefer als gar nicht existent erscheinen ließen. Er ließ sich beharrlich einen rötlich-blonden Schnurrbart wachsen und rasierte ihn, bevor die Stoppeln jemals über den embryonalen Zustand hinaus gedeihen konnten, ebenso beharrlich wieder ab. Auf der Bühne und häufig auch im Privatleben trug er ein Monokel, mal im rechten, mal im linken Auge, hohe steife Kragen mit einer Fliege und Anzüge, die die Aufmerksamkeit mehr durch ihr Muster als durch ihren Schnitt auf sich lenkten. In seiner passiven Art war er liebenswürdig und umgänglich, und sein oft geäußerter Wunsch nach einem besseren Einkommen, damit seine Schwester nicht länger zu arbeiten brauchte, war aufrichtig gemeint.
    «Ich würde nicht aufhören zu arbeiten, und wenn du fünfhundert Pfund in der Woche verdienst», pflegte Mrs. Shannon zu sagen. «Ich arbeite gern. Was um alles in der Welt sollte ich den ganzen Tag über tun?» Dann lachte sie und schnipste mit den Fingern, weil sie eine Zigarette von ihm haben wollte.
    Als Marys Vater starb, hatte Mrs. Shannon die Hilfe ihrer Schwiegereltern, denen das bekannte gehörte, dankend abgelehnt. Ihre eigenen Eltern konnten nichts für sie tun, aber sie wollte, wie sie sagte, ihre Unabhängigkeit behalten und selbst den Lebensunterhalt für Mary und sich verdienen. Als Mary acht Jahre war, hatte Mrs. Shannon eine sichere Dauerstellung in einem gutgehenden, aber entsetzlich langweiligen Mode-Salon gefunden, die sie eines Tages, als sie es nicht mehr aushielt, aufgab. Geschickt, wie sie war, ergatterte sie sich statt dessen eine Anstellung als Lehrerin an einer großen Hauswirtschaftsschule in South Kensington, wo sie Unterricht im Schneidern
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