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Mariana

Mariana

Titel: Mariana
Autoren: Monica Dickens
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der Vorhänge wahr, die vor dem halbgeöffneten Fenster hin- und herwehten. Sie hörte den Wind und den Regen und das Bellen eines törichten Hundes, das über die Heide schallte. Sie dachte an Vergangenes, an die Jahre, die sie bis zu diesem Abend durchlebt hatte — bis zu diesem Wendepunkt in ihrem Dasein.
    Sie dachte an all die unwichtigen und wichtigen, an die aufregenden und alltäglichen Geschehnisse, durch die sie zu der Frau geworden war, die jetzt hier in der Dunkelheit, in der es nach frischem Leinen roch, lag, und darauf wartete zu erfahren, ob ihr Mann noch lebte oder ob er tot war.

2

    Der saubere Geruch der frischen Bettwäsche erinnerte Mary an den , wie sie es als Kind genannt hatte. Wenn man das Haus in Charbury durch die Vordertür betrat, war es das erste, das man wahrnahm. Er bestand aus einem undefinierbaren Gemisch aller im Haus vorhandenen Wohlgerüche. Da duftete es nach Rosen, da roch es nach dem Rauch des Kaminfeuers, nach gebohnerten Fußböden, nach frischem Brot und nach altem Leinen, zwischen dem Lavendel lag. Der Geruch fiel einem nur auf, wenn man gerade aus London kam. War man erst einige Zeit dort, so gehörte er einfach zu dem Leben auf dem Lande, genauso wie die schäbigen, alten Sachen, die man trug, die aufgeschlagenen Knie und das Geräusch, von dem man sonnabends früh erwachte, wenn die Gärtner die Kieswege harkten.
    Manchmal, wenn sie in London in der Schule war oder in der Wohnung in der Nähe von Olympia, wo sie mit ihrer Mutter und Onkel Geoffrey lebte, wehte sie irgend etwas an — irgendein Duft — der den Charbury-Geruch in ihrer Erinnerung wachrief, und eine Welle des Heimwehs überflutete sie. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, Sehnsucht nach den Ferientagen ergriff sie, nach dem niedrigen, grauen, Elisabethanischen Haus im Somerset, das gerade die richtige Größe hatte und für alles Platz bot, ohne irgendwie pompös zu sein.
    Für Mary war alles in Charbury absolut vollkommen. Sogar ihre höchst unausstehlichen Kusinen nahm sie dort mit in Kauf. Ohne sich darüber klar zu sein, worin der Reiz dieses Fleckchens Erde bestand, war sie sich seines Zaubers tief bewußt, und es war wie ein Schock für sie, als sie zu ihrer Überraschung nach Jahren erfuhr, daß die Erwachsenen nichts von dem Paradies jener kindlichen Glückseligkeit dort verspürt hatten.
    «Ganz entsetzlich waren unsere Familienkräche», wußte ihre Mutter zu berichten, «irgendeiner war immer beleidigt und verursachte eine gespannte Atmosphäre, und zum Schluß entschuldigte sich jeder bei jedem und beteuerte: »
    «Wie schade um die schöne Zeit», sagte Mary, die das gar nicht glauben wollte, «davon hatte ich keine Ahnung. Aber immer wird es doch nicht so gewesen sein?»
    «Nein, natürlich nicht. Wir sind auch oft sehr vergnügt gewesen. Es war schon sehr schön dort, zweifellos. Aber du weißt ja, wie das so ist; einer war immer darunter, der schon beim Frühstück einen Plan für den ganzen Tag machen wollte, ein anderer wollte nichts von einem festen Programm wissen und forderte jeden auf, sich seiner Meinung anzuschließen. Bis wir uns geeinigt hatten, war es Zeit zum Mittagessen, und es konnte gar nichts mehr unternommen werden. Ihr Kinder wart glücklich dran. Ihr wußtet nichts von den Dienstboten, die ständig kündigten, weil sie nicht wußten, wo sie an ihrem freien Tag hinsollten, und nichts von Tante Mavis, die dauernd schadhafte Abflüsse entdeckte und uns mit ihren Typhus-Prophezeiungen ängstigte. Ihr wußtet nichts davon, daß Onkel Lionel sich ständig über die magere Jagdausbeute beklagte und deinem Großvater in den Ohren lag, seinem Jagdaufseher auf die Finger zu sehen. Als Großpapa den Besitz veräußerte, verstieg sich Onkel Lionel doch tatsächlich zu der Bemerkung: Ein Glück, daß wir die Klitsche los sind.»
    Selbst als Mary das alles, lange nach dem Verkauf von Charbury, erfuhr, konnte es ihr die Erinnerung an die Vollkommenheit nicht trüben, eine Erinnerung, die ihr durch all die Jahre geblieben war, glorifiziert und beinah zur Legende geworden, weil sie eine Zeit betraf, die nie wiederkehren konnte.
    Charbury House gehörte Marys Großeltern, deren Zweitältester Sohn, George Shannon, Marys Vater gewesen war. Mary konnte sich nicht an ihn erinnern, denn er war 1916, als sie erst ein Jahr alt war, bei einem Gefecht in Thiepval im Nahkampf gefallen. Seine Fotografie, die ihre Mutter ihr gegeben und die sie sich
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