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Mari reitet wie der Wind

Mari reitet wie der Wind

Titel: Mari reitet wie der Wind
Autoren: Federica de Cesco
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unentwegt bei Paloma. In dieser Nacht lag Mari lange wach. Der Sommermond schien grell und golden durch das Fenster. Sie hörte die Grillen zirpen und manchmal stieß eine Eule ihren sanften Ruf aus. Schließlich schlief sie doch ein und träumte, wie sie auf Paloma im Kreis ritt. Rundherum war alles in Schwarz getaucht. Der Kreis jedoch war lichterfüllt, golden und wunderschön. In der Mitte stand der Mann, von dem Sandra gespro chen hatte. Er war schwarz gekleidet und wirkte wie ein großer Uhrzeiger, der sie lenkte. Doch sie konnte sein Gesicht nicht sehen. Es verwirrte Mari, dass dieser Traum völlig Sandras Beschreibung entsprach, aber seltsamerweise gab es ihr auch neuen Mut. Am nächsten Morgen ging sie mit leerem Magen zur Schule. Die Mutter wartete auf die Sozialhilfe und hatte kaum noch Geld. Ein paar Tage lang lebten sie nur von Trockenreis, Brot und Wasser. Die Milch bekam Deborah. In den Geschäften konnte Lola nichts anschreiben lassen. Einer Zigeunerin gewährte man keinen Kredit. Es hatte schon Augenblicke gegeben, da Mari vor lauter Hunger in Mülltonnen gewühlt hatte. Einige Tage später jedoch hatte sie Glück. Grinna, die Korbmacherin, sah, wie Mari auf dem Schulweg an einer Brotkruste kaute. Sie behielt jeden Bissen so lange im Mund, um den sauren Geschmack voll auszukosten. Grinna rief Mari zu sich in den Wohnwagen, gab ihr eine Schnitte gutes Brot mit kaltem Fleisch und eine Tasse Milch dazu. »Arme Kleine!«, brummte sie. »Den ganzen Tag mit leerem Magen in der Schule! Wie sollst du dabei lernen und groß werden?« Mari bedankte sich, verschlang Brot und Fleisch mit Heißhunger und leerte die Tasse in einem Zug, ohne Atem zu schöpfen. Glücklich und gestärkt verließ sie den Wohnwagen. Der Schulweg war lang, aber Mari machte das nichts aus. Selbst im Winter, in Dunkelheit und bei klirrender Kälte, legte sie täglich diese Strecke zurück. Frau Morand, die Lehrerin, hatte Erfahrung mit Kindern verschiedener Herkunft und achtete auf Disziplin. So konnte sie im Unterricht für Ruhe sorgen, aber in der Pause waren die Spiele wild und lärmend. Die größeren oder gleichaltrigen Jungen benahmen sich oft brutal. Mari begann zwar niemals eine Rauferei, aber sie ließ sich auch nichts gefallen. Sie hatte keine Angst vor Prügeleien und war selbstbewusst in ihrem Auftreten. Mädchen, die sich duckten, konnte sie nicht ausstehen. Schwächere Kinder nahm sie immer in Schutz, was ihr viel Respekt verschaffte. Sie war nie eine begeisterte Schülerin gewesen und in letzter Zeit war sie noch weniger bei der Sache als sonst. Manchmal saß sie während der ganzen Schulstunde über ihrem Heft, ohne dass etwas dabei herauskam. Der Gedanke an Paloma ließ sie nicht los. Seit ihrem unfreiwilligen Bad im Meer waren ein paar Tage vergangen. Mari fühlte sich immer unbehaglicher; sie hatte das quälende Gefühl, dass etwas Schlimmes passiert war. Darum entschied sie sich, etwas zu tun, um ihre Unruhe loszuwerden. Zwei Tage später war Sonntag. Schulfrei. Mari erzählte der Mutter nicht, dass sie zu ihrem Pferd wollte, und Lola stellte keine Fragen. Sie war daran gewöhnt, dass Mari den ganzen Tag allein herumstreifte. Zigeunerkinder sind sehr selbstständig. Und weil sie unter dem Schutz der Gemeinschaft stehen, machen sich die Eltern auch wenig Sorgen um sie. Lola war von der Sippe ausgestoßen, aber ihre Kinder ließ man diese Missachtung nicht spüren. An diesem Tag blies der Mistral, der stürmische Südwind, mit aller Kraft. Das Städtchen LesSaintes-Maries war ganz in wirbelndes Licht getaucht. Brausend fegte der Wind durch die von Autos und Motorrädern vollgestopften Gassen. Mari hustete und spuckte. Ihre Augen tränten, ihre Nase lief und im Mund hatte sie Sandkörner, die zwischen den Zähnen knirschten. Die meisten Häuser des Ortes waren ein-oder zweistöckig, aber ständig wurden neue Wohnviertel gebaut. Die Straßen, von Geschäften und überfüllten Cafés gesäumt, schienen alle in die gleiche Richtung zu führen: zur Kathedrale und zum Damm mit seiner massiven Zementfläche. Während sie über den Strand stapfte, kämpfte Mari gegen den Wind, um nicht umgeweht zu werden. Das Rauschen der großen Wellen erstickte jedes Geräusch. Möwen glitten über das Meer, blinkend im Sonnenlicht. Mari lief bis zu den Dünen, hockte sich dort eine Weile hin, um Atem zu schöpfen. Der Wind kam nicht bis in die Senke auf dieser Seite der Dünen. Er wehte über Mari hinweg, bog das trockene Gras zur Seite,
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