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Mari reitet wie der Wind

Mari reitet wie der Wind

Titel: Mari reitet wie der Wind
Autoren: Federica de Cesco
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dass Paloma nun das gleiche Schicksal bevorstand, erfüllte sie mit ohnmächtigem Zorn. Mit unendlicher Freude und Geduld hatte sie das Füllen zugeritten. Unzählige Male hatte Paloma sie abgeworfen, sich wild gegen den Halfter gesträubt. Mari besaß keinen Sattel; sie wollte auch nicht, dass Paloma eine Gebissstange im Maul hatte. Sie sprach in einem beruhigenden, liebevollen Singsang mit dem Tier, bis Paloma endlich stillhielt und Mari sich auf sie schwingen konnte. Der Schimmel duldete nur sie auf seinem Rücken. Er wollte auch nicht, dass andere ihn streichelten, entwich ihnen schnaubend, schlug unwillig aus. Es war bekannt, dass Marcel Aumale und seine Gardians brutal mit den Pferden umgingen. Scheu und eigensinnig, wie sie war, würde Paloma solch rohe Behandlung nicht hinnehmen. Sie würde sich zur Wehr setzen, sich dabei zu Tode toben. Wie kann ich sie nur retten?, dachte Mari verzweifelt. Mari war ein Kind der Boumians, der Nachkommen des »Fahrenden Volkes« in Südfrankreich. Viele von ihnen lebten noch in Wohnwagen, waren aber sesshaft geworden und schickten ihre Kinder zur Schule. Die Frauen bebauten kleine Gärten, halfen bei der Weinlese oder der Ernte. Die Männer waren Korbmacher, Viehhüter oder Zirkusartisten. Auch Mari ging zur Schule, aber das Lernen machte ihr wenig Spaß. Mit zwölf konnte sie gerade genug lesen und schreiben, um einen Brief zu verfassen, der von Fehlern wimmelte. Doch Mari war das egal. »Um zu reiten, brauche ich das nicht.« Mari und ihre kleine Schwester Deborah waren ohne elektrisches Licht und ohne Wasseranschluss groß geworden. Abends wurde der Wohnwagen von einer Petroleumlampe erleuchtet. Lola, Maris Mutter, kochte mit Butangas. Um sich zu waschen, benutzten sie das Wasser aus dem kleinen Bach. Im Winter musste Mari manchmal das Eis mit einem Stein zertrümmern. Maris Vater war ein Franzose, ein waghalsiger, abgebrühter Kerl, der sich oft seltsam benahm. Alain hatte mit seinen Eltern gebrochen, sein Studium aufgegeben und in einem Zirkus mit Pferden gearbeitet, nachdem er Lola kennengelernt hatte. Aber seine Gage war spärlich bemessen gewesen, und als das zweite Kind kam, hatte er sich aus dem Staub gemacht. Lola und ihre Kinder lebten von der Sozialhilfe, in tiefster Armut. Die Sippe nahm es ihr übel, dass sie einen Gatscho – einen Nichtzigeuner – geheiratet hatte. Mitunter hatte Lola mit Mari über diese Dinge gesprochen, als sei ihre Tochter eine Erwachsene. »Die alten Frauen sind böse auf mich. Und jetzt, wo Alain im Gefängnis sitzt, hilft mir keine.« Maris Vater hatte seine Stelle im Zirkus verloren, sich mit Drogenhändlern angelegt und Schlägereien angezettelt. Einmal waren zwei Polizisten gekommen, hatten Lola verhört und den Wohnwagen nach gestohlener Ware durchsucht. Als sie endlich gegangen waren, hatte der Wohnwagen wie ein Schlachtfeld ausgesehen und Lola hatte leise und verzweifelt geschluchzt. »Siehst du, Mari, dein Vater hat ein gutes Herz, aber er ist jähzornig und unberechenbar. Er wollte schnell zu Geld kommen und hat sich in dunkle Geschäfte eingelassen. Jetzt muss er dafür büßen.« Mari sagte nichts und dachte nur: Er hat es nicht anders verdient. Ein paarmal hatte sie erlebt, wie Alain Lola geschlagen hatte. Sie hatte nicht verstanden, warum sich die Mutter nicht wehrte, sondern bloß weinte und wimmerte. Statt Mitleid mit ihr zu haben, schlug Alain sie dann noch stärker. Das war schrecklich gewesen, aber Mari hatte daraus gelernt. Sie hatte sich vorgenommen, sich so etwas nie gefallen zu lassen. »Wenn ich groß bin, werde ich zurückschlagen. Und wie!« Aber Lola konnte das nicht. Lola war so sanft, so gutmütig. Sie verdiente ein wenig Geld, indem sie nach den Rezepten der Großmutter Salben und Medizin aus Kräutern herstellte und verkaufte. Claire, die Großmutter, war in der Heilkunst geübt gewesen. Sie hatte Lola in ihr Wissen eingeweiht. Lola beruhigte mit Pflanzen den Juckreiz von Insektenstichen, kurierte mit Schwitzbädern tief sitzenden Husten. Sie heilte Hautkrankheiten mit Kleiebädern, Brandwunden mit Lehm, Frostbeulen mit Olivenöl. Besondere Heilmittel linderten Durchfall, senkten das Fieber. Mari und Deborah waren selten krank. Wenn sie einmal Schnupfen oder Fieber hatten, gab ihnen Lola einen Sirup, den sie in einem Tontopf auf offener Flamme anrührte. Nach ein paar Stunden ging es den Kindern wieder gut. Natürlich gab es gegen solche Krankheiten auch Tabletten in der Apotheke. Aber Lolas Medizin war
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