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Mari reitet wie der Wind

Mari reitet wie der Wind

Titel: Mari reitet wie der Wind
Autoren: Federica de Cesco
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getröstet. Sie trank mit Behagen den süßen, heißen Tee. »Großmutter, wie war das Leben, als du noch jung warst?« Mari war nicht mit Sandra verwandt, aber bei dem »Fahrenden Volk« werden alle älteren Menschen Großmutter oder Großvater genannt. Das Lächeln blieb auf Sandras Gesicht. »Unser Leben war frei und herrlich. Wir zogen von Kirmes zu Kirmes, von Markt zu Markt. Jeder Tag brachte etwas Neues zum Entdecken. Wir wanderten im Rhythmus der Landstraße und nicht im Lärm der Motoren.«
    Sie zog eine kleine Grimasse und seufzte. »Diese Zeiten sind vorbei. Träume nicht zu viel davon.« Ein kurzes Schweigen folgte. Mari nagte an ihrer Unterlippe. Schließlich sagte sie: »Ich träume oft, dass ich Paloma reite. Wir fliegen über die Wolken, aber der Himmel ist schwarz. Was soll das bedeuten, Großmutter?« »Komm, setz dich zu mir!«, entgegnete die alte Frau. Mari stellte behutsam die Tasse auf den Tisch und tat, was sie sagte. Sandra nahm ihre beiden Hände, hielt sie fest. Ihre eigenen Hände waren kräftig und warm. Sandras Gesicht wirkte ausdruckslos, aber die Stellung ihres Kopfes war wachsam wie bei einem Vogel. Auf einmal wurde ihr Atem stockend und rau. Sie sprach, die Augen ins Leere gerichtet. Ihre Pupillen glänzten im trüben fahlgelben Lampenlicht. »Ich sehe ein Pferd, das im Kreis läuft. Immer im Kreis. In der Mitte steht ein Mann. Alles ist finster, aber die Sonne leuchtet. Das hat etwas mit dir zu tun.« Der verschwommene Ausdruck wich aus ihrem Gesicht. Auf einmal ließ sie Maris Hand los – vielmehr warf sie sie in die Luft, als ließe sie einen Vogel fliegen. Mari starrte sie an. »Großmutter, was hast du gesagt?«
    Die alte Frau schien aus einem Traum zu erwachen. »Ich habe nichts gesagt. Es ist deine Hand, die gesprochen hat. Du wirst dem Mann begegnen, der den Kreis gezogen hat. Er wird dir helfen.« Mari fühlte einen Schauer, tief in der Gegend des Herzens. Keine Furcht, nein, sondern Erregung. »Wo ist er?« »Er wird kommen. Bald! Zum Fest der heiligen Sara.« Maris Atem flog. »Aber wie finde ich ihn?« Sandra näherte Mari ihr Gesicht, kniff ein wenig die Augen zusammen. Mari sah das dünne Faltennetz auf ihrer Haut, den überraschend seidigen Schimmer ihres grauen Haares. »Suche die Sonne, die um Mitternacht scheint. Du wirst den Mann erkennen. Tu alles, was er dir sagt. Er wird dich in den Kreis führen. Dort wirst du reiten, frei wie der Wind.« »Immer im Kreis?«, fragte Mari fassungslos. Sandra lächelte. Ihre Zähne waren weiß und schön wie die einer ganz jungen Frau. Sie streckte die Hand aus, berührte zärtlich Maris erhitzte Wange. »Der Kreis ist wie der Himmel, er hat weder Anfang noch Ende.«

4. Kapitel
    Bis Mari sich endlich auf den Weg zu ihrem Wohnwagen machte, war es schon spät. Die ersten Sterne blinkten am Himmel, als sie die Stufen erklomm und die Tür aufstieß. Lola hatte Reisschleim gekocht. Sie hielt die kleine Deborah auf ihrem Schoß und fütterte sie. Deborahs lang bewimperte Augen glänzten im Licht. Sie trug ein Kleidchen aus geblümter Baumwolle und nichts darunter. Als Mari in den Wohnwagen kam, strampelte Deborah vor Vergnügen. Doch die Mutter machte ein ernstes Gesicht. »So spät?«, fragte sie. »Und wie du aussiehst! Wer hat dir denn diese Sachen gegeben?« »Sandra. Ich bringe sie ihr wieder zurück. Die Socken darf ich behalten.« »Was hast du denn wieder angestellt?«, seufzte Lola. Mari log ihre Mutter nie an; auch diesmal erzählte sie die Wahrheit. Lolas empfindsame Lider zuckten. Ihre Stimme wurde rau. »Mari, du hast versprochen, es nie mehr zu tun. Das Pferd gehört jetzt Marcel Aumale, das musst du doch einsehen. Wenn du erwischt wirst, kann das schlimme Folgen haben.«
    »Komme ich dann ins Gefängnis?« Lola seufzte. »Aumale könnte behaupten, dass ich keine gute Mutter für dich bin. Wir riskieren, dass die Behörden sich einschalten. Haben wir nicht schon Sorgen genug?« Mari ballte die Fäuste. »Paloma lässt sich nur von mir reiten!« »Das ist kein Grund zur Freude«, sagte Lola bitter. »Die Stute wird darunter zu leiden haben.« Mari biss sich auf die Lippen. Ihre Mutter hatte wohl recht. Deborah kreischte, streckte fröhlich die Arme aus. Sie wollte von Mari gefüttert werden. Mari lächelte und nahm das Kind auf die Knie. Sie presste das Gesichtchen der Kleinen an sich, als wollte sie den Geruch der Haut in sich aufnehmen. Dann nahm sie den Löffel und fütterte das Kind. Doch ihre Gedanken waren
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