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Mari reitet wie der Wind

Mari reitet wie der Wind

Titel: Mari reitet wie der Wind
Autoren: Federica de Cesco
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es den Viehhütern wohl gelingen das Pferd wieder einzufangen. Sie streichelte Paloma, drückte kurz ihr Gesicht an ihren bebenden Hals. »Ruh dich gut aus, Paloma. Aber nimm dich vor den Stieren in Acht! Wir sehen uns wieder. Bald, ich versprech’s dir!« Rasch wandte sie sich ab, verschwand lautlos in den Büschen. Auf dem sumpfigen Boden liefen die Abdrücke der Stiere kreuz und quer durcheinander. Tausende von Fliegen und Mücken tanzten in der Luft. Der Wind raschelte durch das Schilf, das hier so dicht war, dass sogar ein Erwachsener leicht darin verschwinden konnte. Von Zeit zu Zeit erblickte Mari die Stiere, die zu zweit oder zu dritt in den hohen Gräsern weideten. Sie waren riesengroß, mit mächtigen Rücken und wuchtigen Nacken. Die muskulösen Körper glänzten in tiefem Schwarz. Die blanken Hörner waren nach vorn gerichtet. Ab und zu schüttelten sie, von einer Bremse gereizt, den massiven Kopf. »Lasst mich vorbei!«, rief ihnen Mari leise zu. »Ich störe euch nicht!« Die rot geränderten Augen der Stiere drehten sich zu ihr hin, ihre Nüstern zogen die Witterung ein, doch Mari huschte vorbei wie ein Schatten im Unterholz. Auf einmal vernahm sie den leichten Aufschlag eines Ruders. Der künstliche Entwässerungskanal führte mitten durch die Weide. Fast geräuschlos bahnte sich Mari einen Weg durch das Schilf, bis der Kanal an einer lichten Stelle sichtbar wurde. Ein Boot glitt auf dem Wasser dahin. Eine alte Frau in Gummistiefeln bewegte es im Stehen mit einer langen Stange. Sie trug eine Hose, mit einem Bindfaden an der Taille gebunden, und ein Männerhemd, von der Sonne ausgebleicht. Ihr kurz geschnittenes Haar schimmerte grau. Die braun gebrannte Haut war runzelig, doch die Form ihres Gesichtes verriet, dass sie einmal eine schöne Frau gewesen war. Mari stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Sie kannte die alte Sandra, seit sie auf der Welt war. Sandra war die Einzige, die noch eine Verdine hatte – einen Wohnwagen, der früher von Pferden gezogen worden war. Natürlich hatte sie kein Pferd mehr und der Wohnwagen fiel in sich zusammen. Doch abgesehen davon, dass sie nicht mehr auf Wanderschaft war, hatte sich Sandras Lebensweise seit ihrer Jugend kaum verändert. Sie ernährte sich von Gemüse, das sie in einem winzigen Garten züchtete, von Fischen und Krebsen. Als Mari aus den Binsen trat, erblickte die alte Frau das Mädchen und zog die Stirn kraus.
    »Kind, was tust du hier? Die Stiere sind gefährlich.« »Aumales Viehhüter suchen nach mir«, rief Mari ihr leise zu. »Ich musste mich verstecken.« Sandra schnalzte mit der Zunge. »Komm!« Sie drehte das Boot leise seitwärts, steuerte es mit der Stange dem Ufer entgegen. Mari glitt die Böschung hinunter, watete durch das Wasser, das ihr bis an die Schenkel reichte. Sandra legte die Stange quer über das schmale Boot. Dann stemmte sie die Füße rechts und links auf dem Bootsrand auf, damit es im Gleichgewicht war, und streckte ihre Hand aus. Mari packte diese Hand, die klein und doch so kräftig war. Das Boot schwankte, als Sandra das Mädchen hineinzog. Doch Mari war leicht und bewegte sich geschickt; das Wasser beruhigte sich sofort und das Boot hörte auf zu zittern. Sandra bückte sich nach der Stange und stieß sich ab. Das Wasser gluckste leise, als das Boot durch das Schilf trieb. Mari kauerte sich auf die schmale Bank. Neben ihren Füßen stand ein kleiner Korb, unter dessen halb geöffnetem Deckel einige Krebse zu sehen waren. Mari wusste genau, wie die alte Sandra Krebse fing: Sie steckte die Zweige eines bestimmten Strauches mit den Blättern nach unten ins Wasser. Einen Tag später, wenn sie sie wie der herauszog, hingen Krebse daran wie Trauben an einer Weinrebe. Die Frau beobachtete Mari. Sie hatte seltsame Augen, hell und golden wie die eines Schäferhundes. Mari fand diese Augen sehr schön. »Du bist ja ganz nass«, bemerkte Sandra. Ihre Stimme hatte einen rauen, dunklen Ton, sie klang fast wie die eines Mannes. »Ich war im Meer.« »Mit den Kleidern?« Mari erzählte Sandra, was passiert war. Sandra nickte vor sich hin. »Was du tust, ist gefährlich. Aber Aumale hätte dir den Schimmel nicht nehmen dürfen. Ein schönes Pferd soll dem gehören, der es am meisten liebt. Dann entfaltet sich seine Kraft. Eine Kraft, die nicht verloren gehen darf.« Mari knetete verstört die Hände. »Am liebsten möchte ich Paloma stehlen!« »Früher hättest du das tun können«, sagte die alte Frau gelassen. »Heute geht es
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