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Mari reitet wie der Wind

Mari reitet wie der Wind

Titel: Mari reitet wie der Wind
Autoren: Federica de Cesco
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nicht mehr.« Sie verstummte, stakte mit ihrer langen Stange gleichmäßig weiter. Die Sonne sank und mit Beginn des Abends kam ein kühler Wind auf. Man hörte ihn in den Binsen zischeln. Mari verschränkte fröstelnd die Arme. Sandra brach das Schweigen, indem sie auf eine Decke deutete.
    »Du erkältest dich ja. Zieh dich lieber aus, damit deine Kleider trocknen.« Mari zerrte sich ihre triefenden Sachen vom Leib, auch die Unterwäsche, und wickelte sich in die Decke, die nach Fisch roch. Der Himmel färbte sich rot; Fledermäuse huschten über die goldglitzernden Binsen. Am Ende einer Schneise, die durch das Schilf lief, wurde eine kleine Halbinsel sichtbar. Sandra wendete das Boot, ließ es auf das Ufer zugleiten. Sie stieg in ihren Gummistiefeln ins Wasser, zog ihr Boot halb aufs Trockene. Dann nahm sie ihren Korb, warf sich Maris nasse Kleider über den Arm und erklomm die Böschung. Mari stapfte hinter ihr her, in ihre Decke gehüllt. Das feuchte Haar ringelte sich auf ihren nackten Schultern. Die etwas erhöhte Insel bestand aus Sandbänken, Schilf und zähem Buschwerk. Vor Jahren, als die Insel noch mit dem Festland verbunden gewesen war, hatte Sandra ihre Verdine unter einen Baum gestellt. Manchmal, wenn es lange regnete, stieg das Hochwasser bis zu den morschen Rädern. Die Verdine hatte ein Ofenrohr, das aus dem Dach kam, sodass Sandra im Winter den Wohnwagen heizen konnte. Im Sommer bestand ihr Herd aus zwei Backsteinen, auf denen ein Kochtopf stand. Er hatte genau die richtige Höhe, damit Kleinholz daruntergelegt werden konnte.
    Mari kletterte hinter Sandra die drei Stufen hinauf. Das Gefährt schaukelte wie ein Schiff auf See, aber Sandra schien das nichts auszumachen. Sie bewegte sich geschickt in der Dunkelheit, zündete eine kleine Petroleumlampe an. Es roch nach eingeschlossener Luft, Zimt und Bienenhonig. Maris Augen wanderten staunend umher. Der Wohnwagen war viel schöner eingerichtet als der ihrer Mutter. Auf dem Boden lagen Teppiche, in der Bettnische bunte Kissen. Der kleine Tisch war mit Perlmutt eingelegt. Ein alter Samowar glänzte im flackernden Licht. Während Mari sich umschaute, wühlte Sandra in einer Truhe und brachte ein paar Kleider zum Vorschein, die sie Mari hinwarf. »Da! Du bist ja fast so groß wie ich.« Mari kicherte. Stimmt, dachte sie. Die alte Sandra war kaum einen Kopf größer als sie selbst. Sie zog den verwaschenen Schlüpfer an, die abgenutzten Hosen, die alte Bluse. Zum Schluss nahm Sandra ein Paar blaue Wollsocken aus der Truhe. »Selbst gestrickt. Von mir!« Dann machte sie sich am Samowar zu schaffen. Mari sah interessiert zu. Bald wallte das Wasser auf, der Samowar summte. Sandra goss den Tee in kleine, durchsichtig schimmernde Tassen. »Wie schön die sind!«, flüsterte Mari. Sie wagte kaum, aus der Tasse zu trinken, aus Angst sie z u zerbrechen. Die alte Frau saß im Schneidersit z in ihrer Bettnische . »Wir Alten wussten noch zu leben. Die Junge n haben kaum noch Sinn für diese Dinge. Schade ! Deine Mutter ist eine gute Frau, sie hat heilend e Hände. Aber sie hat die Peitsche von den Rabe n getrennt. « Mari schwieg . »Verstehst du das nicht?«, fragte die alte Frau . »Doch«, flüsterte Mari . Die Peitsche stellte die Kraft dar, der Rabe di e Weisheit. Sandra wollte damit sagen, dass Lol a das Gesetz der Sippe gebrochen hatte. Sie nickt e Mari zu . »Unsere Gesetze sind hart, aber sie dienen nu r dem Wohl der Gemeinschaft. Auch ein Gatsch o muss sie anerkennen. « Mari schluckte . »Ich habe oft darüber nachgedacht. « »Über deinen Vater? « »Auch über meine Mutter. Sag, bist du ihr böse? « Sandra schüttelte den Kopf . »Nein, ich nicht. Aber sie hat unserem Volk geschadet. « Mari schlug die Augen nieder. Dass ihr Vate r hinter Gittern saß, brachte die Boumians in Verruf. Gerüchte kamen schnell in Umlauf: Da er Franzose war, hieß es, die Zigeuner hätten ihn verdorben. Das Gegenteil war der Fall, aber die Behörden wollten das nicht einsehen. Sandra sprach weiter: »Unsere Alten hatten deinen Vater gewarnt. Er ist auf die schiefe Bahn gekommen, weil er über ihre Weisheit nur gelacht hat. Auch der Wille deiner Mutter war nicht stark genug, um ihn vor Schaden zu bewahren. Männer lassen sich von Tränen nicht beeindrucken. Sie brauchen eine starke Hand, die sie führt.« »Werde ich stark sein?«, fragte Mari. Sandras plötzliches Lächeln war warm und hell wie ein Sonnenstrahl. »Das bist du jetzt schon, Kind.« Mari fühlte sich
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