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Mari reitet wie der Wind

Mari reitet wie der Wind

Titel: Mari reitet wie der Wind
Autoren: Federica de Cesco
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besser. Mari war oft dabei, wenn sie die Heilmittel zubereitete, und stellte eine Menge Fragen. Aber eines Tages hatte Lola zu ihr gesagt: »Diese Dinge sind nichts für dich, Mari. Das weiß ich sicher. Die Sprache der Pflanzen wird Deborah sprechen. Aber tröste dich, du hast eine andere Gabe. Du sprichst die Sprache der Tiere, wie dein Vater.« Mari war wütend geworden. »Ich will nicht wie mein Vater werden!« Über Lolas Gesicht war ein Lächeln gehuscht. »Du hast seine Stärke und Willenskraft, aber nicht seinen Leichtsinn. Du bist der bessere Teil von ihm.« Auch jetzt, beim Laufen, dachte Mari über Lolas Worte nach. Ihre Mutter konnte weder lesen noch schreiben, aber es gab viele Dinge, die sie besser wusste als andere Menschen. Der Wind wehte und ließ das Schilf rauschen. Das war fast so, als ob Mari die Stimme der Mutter hörte. Sie wurde allmählich müde, aber zum Glück lag der größte Teil der Strecke jetzt hinter ihr. Bald näherte sie sich dem Strand. Knorriges Gebüsch bedeckte den Boden mit kargem Schatten, Salz-und Ginstergerüche erfüllten die heiße Luft. Mari lief jetzt an einem kleinen Kanal, einer Roubine, entlang, die das Wasser der Teiche mit dem Meer verband. Sie dachte daran, dass sie nie so weise wie die Mutter werden würde. Und sie wollte auch nicht ins Gefängnis kommen wie der Vater. Sie brauchte Freiheit und frische Luft. Und wenn sie in der Schule saß, kribbelten ihr schon nach ein oder zwei Stunden die Beine. Bisher hatte es immer Paloma gegeben, mit der sie ausreiten konnte, und das hatte Mari glücklich gemacht. Doch jetzt hatte sie Paloma verloren.

2. Kapitel
    Das Sonnenlicht funkelte mild, als Mari sich im Windschatten der Dünen niederkauerte. Der Strand lag grau und verlassen da. Mari kannte alle Wege, alle Mulden in den Dünen. Sie konnte mit geschlossenen Augen überall hingehen und brauchte nur mit nackten Füßen den Boden zu berühren, um zu wissen, wo sie war. Nun wartete sie, geduldig und kaum außer Atem im Sand sitzend, die Arme um die Knie geschlungen. Das Salz brannte auf ihren Lidern und Lippen, das Rauschen von Wind und Meer dröhnte ihr in den Ohren. Die Weide befand sich auf der anderen Seite des Kanals. Bei Trockenheit war das Wasser nicht tief und die Pferde taten, was sie wollten: Weil sie die Nähe des Meeres liebten, überquerten sie immer wieder den Kanal und liefen zum Strand. Nach einer Weile holten die Gardians sie ein, trieben sie auf die Weide zurück. Auch diesmal wartete Mari nicht umsonst. Unvermittelt durchbrach ein dumpfes Pochen die Stille. Einen Vogelschwarm aufwirbelnd, sprengte eine Gruppe von Pferden aus dem Buschwerk. Mit fliegender Mähne galoppierten sie über den Strand. Am Ufer verlangsamten sie ihren Schritt, wateten durch die Pfützen oder trabten, ihren Schweif schwingend, im Kreis herum. Einige warfen den Kopf zurück und wieherten; es hörte sich wie ein tiefes Lachen an. Ein Füllen stand am Rand eines Tümpels, der sein Spiegelbild zurückwarf. Maris Herz klopfte wild. Paloma! Sie war nicht gedrungen, wie Camargue-Pferde es oft sind, sondern schlank und hochgewachsen. Ihr Hals war in anmutiger Linie gebogen, ihre Beine erstaunlich feingliedrig. Ihre dichte, lange Mähne fiel weit über die großen, dunkel glänzenden Augen. Der Schweif war so lang, dass er fast den Boden berührte. Und weil das weiße Pferd fast bläulich schimmerte, hatte Mari der Stute den Namen »Paloma« – Taube – gegeben. Das Tier hatte es in sich. Mari gehorchte es zwar wie ein Pony, aber sobald sich ihm ein Fremder näherte, schlugen seine Hufe wie Keulen durch die Luft. Einmal hatte ihm ein Viehhüter die Kandare anlegen wollen. Paloma hatte nach seinem Handgelenk geschnappt, die Pulsader nur um Haaresbreite verfehlt. Auch jetzt hielt Paloma sich abseits; ihr Spiegelbild leuchtete im blauen Tümpel. Es war, als bewegten sich zwei Tiere – eines in der Luft und eines im Wasser – in vollkommenem Gleichklang miteinander. Ein Lächeln flog über Maris finsteres Gesicht. Sie richtete sich vorsichtig auf, steckte zwei Finger zwischen die Lippen und stieß einen schrillen Pfiff aus, der wie der Ruf eines Vogels klang. Sofort hob die Stute den Kopf, schüttelte die Mähne, spitzte die Ohren. Mari pfiff ein zweites Mal. Dieser zweite Ton war kurz und deutlich, doch ohne Schärfe. Palomas linker Vorderhuf scharrte im Sand. Dann setzte sie sich in Bewegung, trabte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Leicht und anmutig bewegte sich
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