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Mann Ohne Makel

Titel: Mann Ohne Makel
Autoren: Christian Ditfurth
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Fehler gemacht.
    »Na, dann lass uns doch einen trinken!«, sagte Ossi.
    »Einen auf unser Wiedersehen! Oder auch zwei.«
    Sie verabredeten sich für acht Uhr im Tokaja, einer Studenten-kneipe nahe der Universität. Stachelmann legte auf und ärgerte sich. Er hatte sich auf einen ruhigen Abend gefreut mit Horatio Hornblower, C. S. Forresters britischem Seehelden in der Zeit der napoleonischen Kriege. Stachelmann hatte eine billige Gesamtausgabe gekauft, als ihn einmal die Sehnsucht nach seiner Jugend überwältigt hatte. Hornblowers Abenteuer hatten ihn als Fünfzehnjährigen gefesselt, und er staunte, weil sie es immer noch taten. Nun erfuhr er heute Abend also nicht, wie sich Horny aus französischer Gefangenschaft rettete, sondern wie es Ossi, den Revolutionär, zur Polizei verschlagen hatte. Da fiel Stachelmann ein anderer ein, der größte Revolutionär unter ihnen allen damals, ungekämmte schwarze Haare und ein mächtiger Bart, der irgendwann einmal nach dem Besuch bei seinem reichen Vater erklärte, er habe beschlossen, Wirtschaftsprüfer zu werden. Dies sei die wirksamste Art, die Macht des Kapitals zu brechen. Stachelmann grinste, als ihm diese Szene wieder einfiel.
    Das Grinsen verging Stachelmann, als sein Blick auf einen Berg von Papier fiel, der auf einem kleinen Tisch aufragte. In einem Anfall von Pathos hatte er ihn Berg der Schande getauft. Er bestand aus fünf hohen Stapeln Akten, die den hoffnungslosen Zustand seiner überfälligen Habilitation anzeigten. Seit ein paar Jahren warteten die Akten auf ihn, und er bildete sich ein, dass er allmählich vergaß, welches Thema er sich ausgesucht hatte. Und weil er es nicht packte, würde er auch in den kommenden Jahren noch in dieser Rumpelkammer sitzen und Hausarbeiten und Klausuren korrigieren, wenn sie ihn nicht vorher rausschmissen. Ein Blick auf diesen Stapel erinnerte ihn an seinen Mangel an Disziplin, bestärkte ihn in seinem Glauben, eine Fehlbesetzung zu sein in seinem Beruf. Ihm mangelte es an Ehrgeiz und an Talent. Er zweifelte an seiner Fähigkeit, einen vernünftigen Satz zu schreiben. Lächerlich die Vorstellung, er könnte die Geschichte des Konzentrationslagers Buchenwald darstellen und dafür irgendwann sogar mit dem Titel eines Professors belohnt werden. An einen Lehrstuhl wagte er nicht einmal zu denken. Dabei war das am Anfang sein Ziel gewesen. Er wollte ein großer Historiker werden wie die Mommsens, Steinbach, Jaeckel, oder wie früher auch Baring, der sich inzwischen in Talkshows als Hysteriker entpuppte. Wenn Stachelmann an sein Ziel dachte und an das, was er mit seinen einundvierzig Jahren erreicht hatte, überkam ihn Verzweiflung. Las er die Arbeiten anderer Historiker, und waren sie noch so unbekannt, fühlte er sich wie eine Ameise. Offenbar hatte er seine Rolle gefunden, hielt Seminare und arbeitete Hasso Bohming zu, dem Professor, dem »Sagenhaften«, wie ihn manche nannten, weil es Bohming dürstete, sich seiner Mitwirkung an all den Historiker-schlachten der jüngsten Vergangenheit zu rühmen, die ihm den Hass der Widersacher eingebracht habe wie die Bewunderung der Mitstreiter. Nicht nur Stachelmann war das Missverhältnis aufgefallen, das sich zeigte zwischen den Blutgeschichten von der Front und ihrem Niederschlag in Fachzeitschriften und Sammelbänden.
    Stachelmann lachte leise vor sich hin. Natürlich, der nette Bohming war ein Aufschneider. Aber er, Stachelmann, war nicht mal das, er war ein Nichts. Er mochte noch so viel angeben, es wäre zwischen der Lüge und der Wahrheit kein Verhältnis auszurechnen, weil es kein einziges Körnchen Wahrheit gab. Seit Jahren hatte Stachelmann Angst vor seiner Unfähigkeit. Wohin würde sie ihn führen? Würde er enden wie der ewige Dozent der Geschichte, dieser Weitenschläger, der damals in Heidelberg mehr Zeit auf Weinfesten verbracht hatte als im Historischen Institut? Er sah den Mann vor sich, rote Haare, Säufergesicht, Glasaugen, irgendwo angelehnt, weil er sonst wanken würde. Stachelmann fühlte Neugier in sich, war fasziniert von seinem Fach, aber er konnte nicht verwirklichen, was die Neugier von ihm forderte. Er würde es wohl nicht mehr lernen, sich jahrelang auf ein Thema zu konzentrieren, nicht mehr lernen, sich zu langweilen und etwas zu schaffen, was ihm einen Platz in der Gemeinde der Historiker einbrachte.
    Es klopfte an der Tür. Er rief: »Herein!« Er erschrak. Es war sie. Sie war Anne Derling. Anne arbeitete seit zwei Jahren als Assistentin bei Bohming, den
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