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Mann Ohne Makel

Titel: Mann Ohne Makel
Autoren: Christian Ditfurth
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seine Mitarbeiter seitdem Hasso nennen durften und der trotzdem nie einen Zweifel daran ließ, wer ihrer aller Meister war. Zu Anne war er besonders freundlich. Aber das waren eigentlich alle, denn Anne war klug und schön. Diese Kombination erlebt man selten, sagte ein Kollege. Wenn er sonst nie Recht gehabt hätte, hier lag er richtig. Als Anne ihre Stelle antrat, änderte sich die Stimmung am Lehrstuhl. Assistenten und Dozenten strahlten nun einen Eifer aus, dessen Entstehen kein Hellseher hätte vorausahnen können. Im Lauf der Zeit dämpfte sich das Summen unter den Kollegen, aber der Ton klang weiterhin freundlich, und die Diskussionen gestalteten sich lebhafter, wenn sie im Raum war. Ob Anne wusste, was sie bewirkte?
    Sogar der schöne Rolf Kugler von den Politologen schwänzelte eine Weile um sie herum. Der jung-dynamische Neuprofessor stand im Ruf, an jeder neuen Kollegin seine Ausstrahlung zu testen. Vor Anne aber hatte er sich bei den Historikern nicht blicken lassen. Er verschwand dann auch bald wieder von der Bildfläche, offenbar war er nicht gelandet bei Bohmings neuer Assistentin.
    Sie lachte Stachelmann durch den Türspalt an und fragte: »Willst du auch einen Kaffee?«
    »Ja«, sagte er. Besser gesagt, er stammelte. Das hatte sie ihn noch nie gefragt.
    »Ich bring dir einen mit«, sagte sie fröhlich. Der Kopf verschwand, die Tür blieb offen.
    Stachelmann spürte, wie seine Hände feucht wurden. Mit der Schulter schob sie die Tür auf, in beiden Händen hatte sie Becher mit Kaffee aus der kleinen Kammer im Gang. Ihre Brille war verrutscht. Sie stellte beide Becher auf seinen Schreibtisch, nahm die Brille von der Nase, putzte sie an einem Zipfel ihrer Bluse, die sie über der Hose trug. Sie war hell und sommerlich gekleidet, es passte gut zu ihren lockigen, blauschwarzen Haaren.
    »Was machst du gerade? Ich hoffe, ich störe dich nicht allzu sehr?«
    »Nein, nein«, sagte Stachelmann. Er verfluchte innerlich seine Unsicherheit.
    »Ich habe mit einer Studentin gesprochen, ich glaube, sie heißt Alicia oder so ähnlich. Die schwärmte geradezu von deinem Seminar.«
    »Die hat mich wohl verwechselt oder war bei der letzten Sitzung betrunken«, sagte Stachelmann und grinste. Er hörte hin und wieder von Studenten, die seine Seminare gut fanden. Seine Veranstaltungen waren seit Jahren überbelegt. Die Beliebtheit schmeichelte ihm, sie bedeutete aber mehr Arbeit. Und irgendwie verstand er es, sich einzureden, dass es allein seine Themen seien, die den Studenten aus unersichtlichen Gründen gefielen. Vorgestern Abend hatte ihn Alicia Weitbrecht zu Hause angerufen, angeblich um etwas herauszufinden über die nächste Klausur. Er hatte ihre Frage schon vergessen, ihren Anruf nicht.
    »Klar«, erwiderte Anne.
    Stachelmann zuckte mit den Achseln. Er nahm den Kaffeebecher von der Schreibtischkante und trank einen kleinen Schluck.
    Was wollte Anne von ihm? Tratschen?
    »Ich muss mal mit dir reden«, sagte Anne. »Ganz in Ruhe.«
    Stachelmann blickte sie neugierig an. Hoffentlich begann er jetzt nicht zu schwitzen.
    »Gerne«, sagte er. »Jederzeit.«
    »Das ist gut«, erwiderte Anne. Sie schien erleichtert zu sein. »Dann heute Abend?«
    Verdammt, dachte Stachelmann. Für heute Abend hatte er sich bereits mit Ossi verabredet. »Heute geht’s leider nicht. Wie wär’s mit morgen?«
    Anne schaute ihn an. Es schien ihm, als wäre ein Schatten über ihr Gesicht gehuscht. »Gut, dann morgen«, sagte sie. »Bei mir, einverstanden? Ich wohne um die Ecke.«
    »Gut«, sagte Stachelmann. Er wusste, wo sie wohnte. Er war schon ein paar Mal an dem Haus vorbeigelaufen.
    Sie plauderten noch ein wenig über das Institut und den Sagenhaften, beklagten ihr Leid mit lustlosen Studenten, dann stand Anne auf, nahm die leeren Becher, lachte ihn fröhlich an und sagte: »Ich geh mich jetzt mal wieder langweilen.« Ein bisschen Parfümduft blieb im Raum. Es roch gut.
    Als Anne gegangen war, spürte er den Schmerz im Rücken, ganz unten. Er stand auf und mühte sich, den Rücken gerade zu biegen. Diese verfluchten Schmerzen. Er schaute auf die Uhr. In einer halben Stunde begann sein Proseminar über den Nationalsozialismus 1933-39. Er hatte dieses Thema auch gewählt, weil er hoffte, es würde ihm bei seiner Habilitation helfen. Aber bisher hatte es nichts genutzt. Dieses Seminar war noch voller als die vorherigen. Die Studenten saßen zum Teil auf dem Boden. Sie protestierten nicht. Stachelmann und Ossi hatten protestiert, gegen
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