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Mann Ohne Makel

Titel: Mann Ohne Makel
Autoren: Christian Ditfurth
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blauen Himmel, der Wind trieb Wattewolken vor sich her. Er stieg Jacobs Treppe hoch zur Elbchaussee und ging ein Stück in Richtung Stadtmitte. Er bog links ein in die Holztwiete, dann hatte er sein Ziel vor Augen, eine Jugendstilvilla, weiß verputzt, mit hellblauen Bögen über Türen und Fenstern. In der Nähe des Eingangs parkte ein Polizeiauto. Gegenüber der Rückseite lag eine große Baustelle, abgesichert mit einem Drahtzaun. Ein Bagger grub, sein Dieselmotor stieß schwarzen Rauch aus, ein Lastwagen stand neben einer Bauhütte. Er stellte sich an den Zaun, unter eine Buche, und schaute auf das Villengrundstück. Er hatte die Heckenlücke bei einem seiner ersten Ausflüge hierher entdeckt.
    Er war ungeduldig. In den letzten Wochen hatte er manchmal gezweifelt am Sinn seines Auftrags. Er hatte mit der Planung des dritten und letzten Schlags begonnen, bevor er den zweiten geführt hatte. Vielleicht war seine Sorgfalt bei der Vorbereitung des letzten Schlags nur Ausdruck seines Zweifels? Er schüttelte den Kopf. Nein, wenn er diesen Schlag nicht führte, wären alle Schläge davor sinnlos, alle Anstrengung und Gefahr umsonst. Diesmal hatte er kein Jahr Zeit, um sich vorzubereiten. Er fühlte, wie der Tod nach ihm griff. Sobald die Aufregung über seinen letzten Schlag sich gelegt hatte, würde er es tun.
    Dann sah er ihn. Es war ein blonder Junge. Er saß auf einem Bobby-Car und lachte hell. Eine Frau eilte ihm hinterher und setzte ihm eine Mütze auf zum Schutz gegen die Sonne. Der Kleine riss die Mütze herunter, biss in ihren Schirm und warf sie weg. Die Frau hob die Mütze auf und redete auf den Jungen ein. Der Mann konnte nicht verstehen, was sie sagte. Der Junge lachte und schob sich in seinem Bobby-Car weg von der Frau. Die Frau folgte ihm, mit der Mütze in der Hand. Der Mann glaubte sie weinen zu sehen. Wieder sprach sie auf den Jungen ein. Der schüttelte kräftig seinen Kopf und zeigte auf etwas, das der Mann nicht sehen konnte. Er rollte mit dem Bobby-Car dorthin und verschwand aus dem Bildausschnitt. Dann kam er zurück und fuhr auf die Lücke in der Hecke zu. Er strahlte, hatte nicht begriffen, dass seine Schwester tot war.
    Eine junge Frau kam um die Ecke und ging an dem alten Mann vorbei. Sie schaute sich kurz nach ihm um. Er glaubte, Fragen in ihrem Blick erkannt zu haben. Es war Zeit, zu gehen. Während er langsam zur S-Bahnstation Klein Flottbeck lief, arbeitete sein Kopf an dem Plan. Nur noch einmal, murmelte er.
    Dann würde er erlöst sein.
    Er sah den S-Bahnhof. Er ging schneller. Auf dem Bahnsteig setzte er sich auf eine Bank. Erst jetzt merkte er, wie erschöpft er war.
    ***
    Die Nummer war ihm gleich komisch vorgekommen. Es meldete sich das Polizeipräsidium. Nach kurzer Verwirrung fragte Stachelmann nach Oskar Winter. »Ich verbinde mit Kommissar Winter«, sagte die unfreundliche Stimme am Telefon.
    »Winter!« Es klang laut aus dem Telefonhörer.
    »Stachelmann …«
    »Jossi?«, fragte Winter.
    »Ja«, sagte Stachelmann. Er hasste diesen Spitznamen. Er hätte jetzt sagen können: Ich heiße Josef Maria, aber er erinnerte sich, es war zwecklos. Oskar alias »Ossi« Winter hatte schon damals über derlei Proteste gelacht.
    »Da staunst du!«, sagte Ossi. Seine Stimme ließ keinen Zweifel zu.
    Stachelmann staunte und ärgerte sich. »Ja«, sagte er.
    »Und jetzt willst du bestimmt wissen, wie ich auf dich gekommen bin!«
    »Ja.«
    »Aus der Zeitung!«, rief Ossi. »Natürlich aus der Zeitung!«
    Stachelmann stutzte, dann fiel es ihm ein. Da hatte es einen kurzen Bericht gegeben im Hamburger Abendblatt. Vergangene Woche hatte Stachelmann einen Vortrag gehalten über das Hoßbach-Protokoll an der Volkshochschule in der Schanzenstraße, und die Lokalzeitung hatte Platz übrig gehabt für eine kurze Erwähnung. Kein Leser dürfte wirklich verstanden haben, was irgendein Volontär geschrieben hatte über eine der wichtigsten Quellen zu den Ursachen des letzten Weltkriegs. Das hatte Stachelmanns Urteil gefestigt, in den Redaktionen säßen oft Ignoranten, die es keine Sekunde bewegte, was vor ihrer ersten Freundin geschehen war.
    »Du hast doch da einen Vortrag gehalten!«, dröhnte Ossi, als er keine Antwort erhielt. »So viele Josef Maria Stachelmanns wird es ja nicht geben.« Ossi lachte.
    »Ja, ja«, sagte Stachelmann.
    »Hast du heute Abend schon was vor?«, fragte Ossi.
    »Nein«, sagte Stachelmann. Er hatte den anderen nicht wieder auf eine Antwort warten lassen wollen und schon einen
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