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Mann mit Anhang

Mann mit Anhang

Titel: Mann mit Anhang
Autoren: Gitta von Cetto
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Roberto. Sie alle sahen mit ihren dunklen,
kohlenglitzernden Augen auf Enrico, als beobachteten sie ein Gewitter, das sich
rasch austoben und dann einem friedlichen, milden Abend Platz machen würde.
    Enrico unterbrach sein Poltern
eine Sekunde und überzeugte sich befriedigt vom vollzähligen Erscheinen seines
Publikums. Seine Frau trat auf ihn zu und legte ihre Hand auf sein volles,
graumeliertes Haar. »Enrico, denk an dein Herz«, sagte sie beschwörend.
    In seinem Gesicht zuckte es. Er
hatte sein Herz ganz vergessen, aber es war gut, in diesem Augenblick daran
erinnert zu werden. »Er bringt mich noch unter die Erde, Lucia«, stöhnte er und
legte die Rechte pathetisch auf seine Brust.
    Niemand nahm seinen Ausruf
ernst. Bei den Orlanos brachte jeder jeden unter die Erde. Das war kein
Ereignis, das war ein Zustand und keineswegs ein beunruhigender. Wenn keiner
keinen mehr zur Raserei gebracht hätte, wäre man bestürzt gewesen und hätte
wahrscheinlich an eine schleichende Krankheit geglaubt, die der Familie das
Mark aus den Knochen fraß.
    Zehn Minuten nach dieser
temperamentvollen Zwiesprache zwischen Vater und Sohn saßen alle sieben
friedlich vereint vor dem Bildschirm und sahen sich die Übertragung des
Fußball-Weltmeisterschaftskampfes an. Francesca neigte sich zu Nico hinüber.
Sie war seine Vertraute und hatte seine große Liebe zu Goggi von Anfang an
miterlebt. »Ich habe Papa toben hören, aber das ist nicht so tragisch.«
    Nico schnitt ein verzweifeltes
Gesicht. „Vielleicht hat er recht, ich hätte in sein Geschäft eintreten sollen,
dann wäre alles viel leichter, mit Goggi und so.«
    »Mund halten da hinten«,
zischte Carita. Roberto und sie hielten es mit den Turinern und hofften auf ein
Tor.
    »Avanti, avanti!« schrie
Roberto, und Enrico hämmerte mit seinen großen Fäusten auf die Seitenlehnen
seines Stuhles. Die Signora zog seine Hand durch ihren weichen, warmen Arm und
tätschelte sie. »Enrico«, sagte sie mit ihrer dunklen Stimme.
    Francesca griff sich ein Stück
Schokolade aus der silbernen Schale und schob es zwischen die tiefrot gemalten
Lippen. »Ich wünschte, ich könnte auch bald heiraten«, flüsterte sie Nico zu.
»Ich mag diese jungen Burschen nicht, die mir nachrennen. Ich möchte einen soliden,
sehr netten Mann.«
    »Mit Geld«, sagte er.
    »Ja, Geld würde mich nicht
stören. Dich stört es ja bei Goggi auch nicht, oder?«
    Nico dachte über diese Frage
nach. »Doch, es stört mich eher, als es mich freut. In meiner Situation,
verstehst du.« Das Fußballspiel war sehr schnell und sehr hart geworden. Das
Telefon klingelte. Aber keiner von den Orlanos rührte sich von der Stelle. Beim
dritten Klingelzeichen wurde der Vater ungehalten. »Geht denn niemand von
meinem Stamm an den Apparat? Es könnte was Geschäftliches sein.«
    Roberto erhob sich unlustig und
schlenderte ins Nebenzimmer. »Für dich, Nico«, rief er und streifte im
Vorbeigehen den großen Bruder, dem ein Mädchen wichtiger war als ein Tor der
Turiner, mit einem mitleidigen Blick. »Deine rote Flamme.«
    Goggi war am Apparat und sagte
Nico, daß sie ihn treffen wolle, jetzt gleich, in Schwabing. Sie nannte das
kleine Lokal, wo es heiß und eng und billig war, jenes Paradies der jungen
Leute, die nichts hatten als große Pläne, eine Handvoll Kleingeld, zwei Beine
zum Tanzen und einen wunderbaren Mut zur Liebe.
    Nico legte den Hörer zurück. Er
ging in das Zimmer, in dem die anderen vor dem Fernsehapparat saßen, und warf
einen letzten Blick auf die weiße Scheibe, auf der sich kleine schwarze Punkte,
jeder einzelne ein Fußballheld, von einer Seite zur anderen bewegten.
    »Ich geh noch aus«, sagte er
und machte eine eckige Bewegung zur Tür. Sechs Augenpaare wandten sich ihm zu.
    »Tschau«, sagten Francesca und
Carita zu gleicher Zeit.
    »Tschau.«
    Er zog die Tür hinter sich zu
und holte tief Atem. War Liebe, amore, love, l’amour oder wie immer dieser
merkwürdig fiebrige Zustand in den verschiedenen Sprachen der Erde genannt
wurde, wirklich eine Krankheit? Er wußte es nicht, aber keinesfalls wollte er
von ihr geheilt werden.
    Hinter der geschlossenen Tür
brach der Applaus der vieltausendköpfigen Menge los und schwoll zu einem
dumpfen Brausen an. Die Turiner hatten endlich das Tor geschossen. Oder waren
es gar die Mailänder gewesen? Nico kämpfte mit sich, ob er noch einmal umkehren
solle. Aber dann straffte er sich, ging ins Badezimmer und bearbeitete sein
krauses, dunkles Haar mit Wasser. Es war
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