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Manche Maedchen muessen sterben

Manche Maedchen muessen sterben

Titel: Manche Maedchen muessen sterben
Autoren: Jessica Warman
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nicht neugierig, warum ich dich sehen kann? Fragst du dich nicht, warum ich mit dir sprechen kann?«
    Ich nicke.
    »Rate mal«, sagt er.
    Ich vergrabe das Gesicht in den Händen. Meine Handflächen an den Wangen fühlen sich kühl und klamm an. »Weil ich nicht tot bin. Weil das hier nicht wirklich passiert.« Ich schiele ihn zwischen meinen Fingern hindurch an. »Ich tue alles. Bitte. Sag mir nur, dass das alles nicht die Wirklichkeit ist.«
    Er schüttelt den Kopf. »Das kann ich nicht. Tut mir leid.«
    »Aber was ist dann passiert? Ich bin nicht tot. Verstehst du?« Ich gehe einen Schritt näher auf ihn zu. Ich schreie, so laut ich nur kann, laut genug, um jeden auf dem Boot zu wecken, um alle aufzuwecken, die womöglich auf den ganzen Nachbarbooten schlafen. »Ich bin nicht tot!« Mir kommt etwas in den Sinn. »Wir hatten Drogen. Wir haben Drogen genommen, glaube ich. Ja, ich erinnere mich, wir haben was geraucht. Vielleicht habe ich Halluzinogene eingeschmissen. Vielleicht bin ich völlig high und das hier ist bloß eine Nebenwirkung von dem Zeug.«
    Er hebt die Augenbrauen. Offensichtlich hält er nichts von dieser Theorie. »Hast du letzte Nacht wirklich irgendwelche Halluzinogene genommen?«
    Ich schüttle enttäuscht den Kopf. »Nein. Aber jetzt wünschte ich, ich hätte es getan. Ich wünschte auch, ich hätte mehr Kuchen gegessen.« Stirnrunzelnd füge ich hinzu: »Ich weiß nicht, wieso ich mich daran erinnere. Ich erinnere mich an kaum etwas. Warum ausgerechnet daran?«
    »Du kannst mich sehen«, sagt er, ohne auf meine Frage einzugehen, »weil ich tot bin.« Wie um das Ganze unmissverständlich klar zu machen, ergänzt er: »Genau wie du.«
    Ein sanftes Gefühl der Schläfrigkeit schwappt über mich hinweg, während er spricht. Einen Moment lang verlässt die durchdringende Kälte meinen Körper, und mir ist rundum warm. Dann, genauso schnell, wie das Gefühl gekommen ist, verschwindet es wieder. Und plötzlich erkenne ich ihn.
    »Ich weiß, wer du bist«, erkläre ich. Diese Erkenntnis versetzt mich in Aufregung. Ich will sie festhalten; jeder neue Gedanke sorgt dafür, dass ich mich beständiger fühle, fast so, als hätte ich mich unter Kontrolle. Es ist komisch; natürlich weiß ich, wer er ist. Ich weiß nicht, warum mir sein Name nicht gleich eingefallen ist. Er geht seit dem Kindergarten mit mir zusammen in die Schule. »Du bist Alex Berg.«
    Er schließt einen Moment lang die Augen. Als er sie wieder öffnet, verkündet er mit ruhigem, gelassenem Blick: »Das ist richtig.«
    »Ja. Ich erinnere mich an dich.« Ich kann nicht aufhören, mich selbst im Wasser anzustarren; immer wieder schaue ich von Alex zu meiner Leiche, außerstande, irgendetwas anderes zu empfinden als dumpfes Entsetzen. Während ich hinschaue, rutscht mein rechter Stiefel, der lose an meinem Fuß hing, seit ich mich vorhin erstmals im Meer treiben sah, schließlich runter. Er füllt sich langsam mit Wasser. Und dann sinkt er mit einem Gurgeln unter die Oberfläche und verschwindet, noch während ich halbherzig die Hand danach ausstrecke. Jetzt ist mein Fuß im Wasser zu sehen: aufgeschwemmt und verschrumpelt zugleich.
    Abgesehen von der Tatsache, dass wir schon seit einer Ewigkeit zusammen zur Schule gehen, fällt mir noch etwas anderes über Alex ein. Sein Gesicht war letztes Jahr in allen Zeitungen. Vergangenen September, kurz nachdem die Schule wieder angefangen hatte, fuhr er nach der Arbeit im Dunkeln mit seinem Rad nach Hause – er arbeitete im Mystic Market, von meinem Haus bloß ein Stückchen die Straße runter –, als ihn ein Wagen rammte und tötete. Seine Leiche wurde ins sandige Gestrüpp neben der Straße geschleudert; obwohl seine Eltern ihn sofort als vermisst meldeten, landete er so weit weg von der Straße, dass die ihn einige Tage lang nicht fanden. Erst als zufällig ein Jogger vorbeikam, der den Gestank bemerkte und beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen, wurde er gefunden.
    »Wie widerlich«, flüstere ich. Wieder überrascht mich der Gedanke. Was ist los mit mir? Es scheint so, als gebe es zwischen meinem Hirn und meinem Mund keinen Filter mehr. Sei nett, Elizabeth. Der arme Junge ist tot. Bemüht, meine Worte wiedergutzumachen, füge ich hinzu: »Nun, du siehst gar nicht aus, als hätte dich ein Wagen überfahren.« Und das stimmt auch. Von seinem derangierten Haar mal abgesehen, hat er nicht den geringsten Kratzer.
    »Du siehst auch nicht aus, als wärst du vor ein paar Stunden ertrunken.« Er
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