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Manche Maedchen muessen sterben

Manche Maedchen muessen sterben

Titel: Manche Maedchen muessen sterben
Autoren: Jessica Warman
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ist sein Problem?
    Er starrt mich einfach nur mit ausdrucksloser Miene an. Seine braunen Haare sind wirr, unordentlich. Sein Gesicht ist jung und glatt, und seine Augen von einer durchdringenden Grauschattierung. Warum kann ich mich nicht an seinen Namen erinnern?
    »Du bist Elizabeth Valchar«, sagt er.
    Ich nicke. »Nun, eigentlich bin ich Liz. Alle nennen mich Liz.« Während ich spreche, überkommt mich ein sehr sonderbares Gefühl. Es ist, als könnte ich mir keiner Sache mehr sicher sein, nicht einmal meines Namens. Ich habe dieses Gefühl von Ungewissheit, und mir wird klar, dass ich mich an vieles von letzter Nacht nicht erinnern kann. Ich bin mir sicher, dass es eine Party gab; so viel steht fest, wenn man die ganzen leeren Bierflaschen und die halb aufgegessene Geburtstagstorte auf dem Boot bedenkt. Doch die Einzelheiten sind unklar. Habe ich wirklich so viel getrunken?
    Bevor ich dem Jungen irgendeine weitere Frage stellen kann, sagt er: »Und das da unten im Wasser bist du. In dem sehr kalten Wasser.«
    Ich starre das Mädchen im Wasser an. Das bin ich. Ich bin tot. Wie ist das passiert? Wann ist es passiert? Ich war die ganze Nacht über auf dem Boot, oder nicht? Es frustriert mich so ungemein, dass ich mich nicht genau entsinnen kann, was geschehen ist. Meine Erinnerung an die letzte Nacht ist in viele Stückchen zerbrochen, jedes so klein und flüchtig, dass ich sie nicht zu einem zusammenhängenden Ganzen zusammenfügen kann. Ich erinnere mich daran, wie ich meine Geburtstagskerzen ausgepustet habe. Ich erinnere mich, mit Caroline, Mera und Josie für ein Foto posiert zu haben. Ich erinnere mich daran, wie ich allein im Badezimmer stand. Dass ich mich festhielt, während das Boot im Wasser schaukelte, dass ich tiefe Atemzüge nahm, als würde ich versuchen, mich zu beruhigen. Aber ich kann mich nicht entsinnen, weswegen ich aufgebracht war oder ob ich überhaupt wegen irgendwas aufgebracht war. Vielleicht war ich ja bloß betrunken gewesen.
    Als ich nun wieder spreche, ist meine Stimme kaum lauter als ein Flüstern. Ich spüre, wie ich wieder zu weinen anfange. »Sieht ganz so aus. Ja.«
    »Und du rührst dich nicht. Du atmest nicht.« Er beugt sich vor, um meinen Körper im Wasser näher in Augenschein zu nehmen. »Du bist ganz blass. Leichenblass sozusagen.«
    Ich betrachte meine bloßen Arme. Als ich dort neben ihm stehe, bin ich nicht annähernd ein so grässlicher Anblick wie das Mädchen im Meer. Ich bin immer noch gut gebaut, immer noch schön. »Ich hatte immer so eine tolle Bräune.«
    Der Gedanke ergibt für mich keinen Sinn. Warum erinnere ich mich daran, dass ich braun war? Und wen interessiert es in einem Moment wie diesem schon, ob er sonnengebräunt ist?
    Er nickt. »Ich erinnere mich. Und das sind wirklich mörderisch scharfe Stiefel.« Er hält inne. »Wenn ich mal so sagen darf.«
    »Ist schon in Ordnung. Es ist bloß … Sie sind so hübsch.« Und irgendwie bin ich mir sicher, dass sie sehr teuer waren. »Weißt du, in Geschichte habe ich gelernt, dass die Ägypter ihre Toten mit jeder Menge persönlicher Besitztümer begraben haben, damit sie sie mit ins Jenseits nehmen können. Kann ich die Stiefel mitnehmen?« Ich zögere. »Gibt es das Jenseits?« Während ich neben Wie-ist-noch-mal-sein-Name stehe, blicke ich auf mein teures Schuhwerk hinab. »Ich trage sie ja schon«, murmle ich. Sie sind so hübsch ? Na und, wen kümmert das? Es sind bloß Stiefel, um Himmels willen. Und sie sind an den Zehen viel zu eng. Ich will sie nicht behalten; ich will sie ausziehen.
    Aber sie sehen so gut aus. Ich fühle mich desorientiert, überwältigt, fast, als würde ich ohnmächtig werden. Bevor ich mich auf irgendetwas anderes konzentrieren kann, geht der Gedanke weiter. Sie machen das Outfit erst richtig vollständig.
    Ich fühle mich benommen, als würde nichts von alldem wirklich passieren. Das kann einfach nicht sein. Es ist, als wüsste ich kaum, wer ich bin. Ich verspüre ein Aufflackern neuer Hoffnung, dass das alles bloß ein böser Traum ist, dass ich gleich aufwache, mit meinen nackten Zehen wackle, während ich in meinem Bett liege, und später werde ich zusammen mit meinen Freunden auf einen Kaffee ausgehen, und wir werden alle über diesen verrückten Alptraum lachen, den ich hatte.
    Aber vielleicht auch nicht. Der Junge schüttelt den Kopf. »Beruhige dich. Du solltest die Sache langsam angehen.« Er holt tief Luft. »Ich will nicht über Stiefel reden. Zunächst mal, bist du
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