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Kleiner Kummer Großer Kummer

Kleiner Kummer Großer Kummer

Titel: Kleiner Kummer Großer Kummer
Autoren: Robert Tibber
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    Nach achtzehn Monaten Praxisbetrieb und sechs Monaten Ehe wurde ich mir darüber klar, daß ich bisher nur die ersten zögernden Schritte auf dem Weg zu einem guten Hausarzt hinter mich gebracht hatte und daß zu einer harmonischen Ehe mehr gehört, als daran zu denken, die Zahnpastatube wieder zu verschließen. Wenn ich in dem ersten Jahr der Betreuung meiner nun vertrauten Patienten eine gewisse intuitive Geschicklichkeit in ihrer Behandlung erworben und gelernt hatte, gut mit ihnen auszukommen, so gewann ich in meinem zweiten Jahr, neben ein oder zwei grauen Haaren, die Fähigkeit, Mitgefühl zu hegen. Ich bemerkte, daß ich meine üblichen Pflichtbesuche und Konsultationen warmherziger erledigte und den endlosen, wehleidigen Erzählungen vom winzigsten psychologischen Nadelstich bis zum ernstesten organischen Trauma ein geneigteres Ohr lieh.
    Obgleich der Nationale Gesundheitsdienst den altmodischen Hausarzt, der bei jedem Patienten noch zu einem Glas Sherry oder einer Tasse Tee verweilte, nahezu unmöglich gemacht hatte, fühlte ich, daß diese wichtige Figur des vorigen Jahrhunderts nicht durch einen »Pillenspender-Automaten« ersetzt werden konnte. Es hat natürlich in den letzten fünfzig Jahren dramatische Fortschritte in der Medizin gegeben, und das würde sicher genauso weitergehen. Jedoch in einem Zeitalter, in dem pickelige Jugendliche sich nichts dabei dachten, einander oder hilflose alte Damen zu prügeln, war ich überzeugt, daß es auch jetzt noch nötig wäre, eine Familie als Ganzes zu behandeln. Der Fortschritt, den wir in der Medizin gemacht haben, hat uns die Macht über viele Krankheiten des Körpers gegeben, doch wurde damit nicht die Notwendigkeit ausgeschaltet, außer Medikamenten für die Schmerzen auch Mitgefühl für den Patienten selbst bereitzuhaben. Als praktischer Arzt mit der Erfahrung von achtzehn Monaten wußte ich jetzt, daß die Beschwerden, denen ich täglich gegenüberstand, nicht allein die waren, deren Namen man in jeder Zeitung finden und von den Lippen jedes modernen Menschen hören konnte.
    Poliomyelitis, Allergie, Leukämie, Gehirn- und Herzoperationen waren ein ergiebiger Gesprächsstoff in jeder Gesellschaft, aber über die Krankheiten, mit denen ich meistens zu tun hatte, konnte man weder eine interessante Konversation führen noch in den Zeitungen berichten. Ihre Namen waren Geldmangel, Überdruß, Mißverständnis und Mutlosigkeit, und davon war der größte Prozentteil der Patienten geplagt, die mein Wartezimmer füllten.
    Es waren die chronischen Krankheiten einer Generation, die blutsaugende Jahre hinter sich und vor sich eine Zukunft hatte, die durch die allgemeine Unrast der Menschen und vor allem durch die Furcht vor der Atombombe verdunkelt wurde. Die zusammenhaltende, sorglose Familie des vergangenen Jahrhunderts war ausgestorben, geblieben war ein wandernder Stamm sogenannter »unabhängiger Personen«, die dann oft in der Mitte ihres Lebens die Sicherheit suchten, für deren Zerstörung sie in ihrer Jugend so hart gekämpft hatten. Sie lebten in der Furcht, nicht genug Geld zu machen, in der Sorge, ihren Lebensstandard verringern zu müssen, und vor allem in der Angst vor einem vorzeitigen Tod durch eine der so oft besprochenen grausamen Krankheiten. Es kam jetzt weniger darauf an, sich mit den Nachbarn auf gleicher Stufe zu halten, als nach oben zu kommen, solange noch Zeit blieb. Vielleicht wäre es die Aufgabe eines Seelsorgers gewesen, diesen Menschen bei ihrem Gang ins Dunkel beizustehen, aber es war nun einmal so, daß sie zu keinem Seelsorger gingen. Sie kamen, morgens und abends, in meine Sprechstunde. Es war unmöglich, meinen Patienten zu helfen, wenn ich ihnen nicht in allem half.
    Ob dieser Wandel - der, wie ich glaubte, nur meiner eigenen, empfindsamen Seele deutlich wurde - das unvermeidliche Ergebnis meiner fortschreitenden Reife oder meines frischen Ehestandes war, weiß ich nicht. Meiner privaten Meinung nach waren alle Verbesserungen, die meinen Patienten zugute kamen, auf die Arbeit von Sylvia zurückzuführen, mit der ich nun endlich verheiratet war.
    Mir schien es schon eine Ewigkeit her zu sein, daß ich zum ersten Male um ihre Hand angehalten und deswegen meine Assistententätigkeit im Krankenhaus gegen eine Privatpraxis vertauscht hatte, um in der Lage zu sein, ihr ein besseres Leben zu bieten; daß sie jedoch meine Werbung abgewiesen und sich mit dem widerlichen Wilfred Pankrest verlobt hatte. Der grauenhafte Gedanke, wie
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