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Manche Maedchen muessen sterben

Manche Maedchen muessen sterben

Titel: Manche Maedchen muessen sterben
Autoren: Jessica Warman
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habe ich auf dem Pier gesessen – Stunden? Minuten? Schwer zu sagen. Ich starre auf mich selbst herab, im Wasser gefangen, während mein Leichnam darauf wartet, dass ein Lebender erwacht und mich entdeckt. Es ist immer noch dunkel.
    Ich habe geweint. Gezittert. Habe versucht, mir eine vernünftige Erklärung für das einfallen zu lassen, was heute Nacht passiert ist. Eine Weile habe ich versucht, mich selbst zum Aufwachen zu bewegen, überzeugt davon, dass ich nur gerade einen Alptraum hatte. Als das nicht funktionierte, ging ich durch die offene Schiebetür zurück ins Boot. Diesmal bemühte ich mich nicht, leise zu sein; im Gegenteil. Ich versuchte, alle anderen zu wecken, ich beugte mich über ihre Gesichter und brüllte. Ich wollte sie schütteln, sie ohrfeigen; ich stampfte mit meinen Stiefeln auf und schrie, damit jemand, irgendjemand , seine Augen aufmachen und mich sehen würde. Nichts. Als ich sie berührte, war es, als befände sich eine dünne Schicht unsichtbarer Isolierung zwischen meiner Hand und ihren Körpern. Als könnte ich einfach nicht zu ihnen durchdringen.
    Nun bin ich wieder draußen und starre meine Leiche an. Ich bin ganz offiziell dabei durchzudrehen.
    »Elizabeth Valchar«, sage ich laut und streng. »Du kannst nicht tot sein. Du sitzt auf dem Pier, genau hier. Alles kommt wieder in Ordnung.«
    Doch in meiner Stimme, die zittert, als ich die Worte laut ausspreche, schwingt Zweifel mit. Ich fühle mich so jung und allein, so unglaublich hilflos. Es ist schlimmer als ein Alptraum. Es ist die Hölle. Ich will zu meinen Eltern. Ich will zu meinen Freunden. Zu irgendjemandem.
    »Um ehrlich zu sein: Ich fürchte, nichts kommt wieder in Ordnung.«
    Erschrocken schaue ich auf. Neben mir steht ein Junge. Er kann nicht älter als sechzehn oder siebzehn sein.
    Ich halte mir eine Hand vor den Mund, springe auf die Füße und klatsche vor Aufregung in die Hände. »Du kannst mich sehen! Oh, ja! Und du kannst mich hören!«
    »Offensichtlich«, sagt er. »Du stehst ja direkt vor mir.« Dann mustert er mich von oben bis unten. »Du warst immer so scharf«, sagt er. Sein Blick schweift zu meiner Leiche im Wasser, und er klingt irgendwie zufrieden, als er hinzufügt: »Aber jetzt nicht mehr.«
    »Wie bitte? Warte mal – kannst du sie auch sehen?« Wir schauen beide auf meinen Körper herab. Mit einem Mal fühle ich mich erschöpft, und mir ist sehr kalt. Im Schein der Pierlaterne kann ich genug vom Gesicht des Jungen ausmachen, um zu wissen, dass ich ihn kenne. Doch aus irgendeinem Grund fällt mir sein Name nicht ein. Mein Verstand ist wie benebelt. Ich bin so müde.
    »Offensichtlich«, wiederholt er.
    Ich beiße mir auf die Lippe; es tut nicht weh. Ich atme tief ein und versuche, meine Tränen wegzublinzeln, doch dann kommt mir das lächerlich vor. Ich habe bereits geweint. Irgendetwas Schreckliches geht hier vor; warum sollte es mir peinlich sein, dass dieser Junge mich heulen sieht? Wenn es je eine richtige Zeit zum Weinen gab, dann jetzt. »In Ordnung. Offensichtlich geht hier irgendetwas Seltsames vor. Richtig?«
    Er zuckt die Schultern. »Eigentlich nichts besonders Seltsames. Menschen sterben jeden Tag.«
    »Dann willst du also sagen, dass ich …« Ich schaffe es kaum, das Wort über meine Lippen zu bringen. »… tot bin?«
    »Offensi…«
    »Okay! Okay. Oh, Himmel, das ist ein Alptraum. Es muss einer sein. Das hier passiert nicht wirklich.« Ich stampfe frustriert mit dem Fuß auf, von Panik erfüllt. Meine Stiefel sitzen einen Tick zu eng; Schmerz schießt meine Wade hinauf, es sticht bis hoch zu meinem Oberschenkel. Schmerz! Mein Fuß tut weh! Wenn ich das fühlen kann, muss ich am Leben sein, oder nicht?
    »Ich kann nicht tot sein.« Ich lege ihm die Hände auf die Schultern. »Mein Fuß tut weh, ich fühle es. Und ich kann dich anfassen. Die da drinnen konnte ich nicht richtig anfassen«, sage ich und meine damit alle auf dem Boot. »Kannst du mich spüren?«
    »Offensichtlich.« Er zuckt irgendwie vor mir zurück. »Offen gestanden, mir wäre es lieber, wenn du mich nicht berühren würdest.«
    »Du willst nicht, dass ich dich berühre?«
    »Offensi…«
    »Sag noch einmal ›offensichtlich‹. Nur zu, versuch’s.« Ich will ihm einen gemeinen Blick zuwerfen, doch ich bin nicht mit dem Herzen dabei. Er ist der Einzige, der mich sehen kann. Und das fühlt sich verwirrend an; warum will ich gemein zu ihm sein? Versucht er nicht, mir zu helfen? Aber er will nicht, dass ich ihn anrühre. Was
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