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Malina

Malina

Titel: Malina
Autoren: Ingeborg Bachmann
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zu verstehen gab. Es hat sich anders zugetragen, ist eine andere Geschichte, und alles wird sich einmal richtigstellen lassen. Aus den Gerüchtfiguren werden die wahren Figuren, befreit und groß, hervortreten, wie Malina heute für mich, der nicht mehr das Ergebnis von Gerüchten ist, sondern gelöst neben mir sitzt oder mit mir durch die Stadt geht. Für die anderen Richtigstellungen ist die Zeit noch nicht gekommen, sie sind für später. Sind nicht für heute.
    Zu fragen habe ich mich nur mehr, seit alles so geworden ist zwischen uns, wie es eben ist, was wir denn sein können für einander, Malina und ich, da wir einander so unähnlich sind, so verschieden,und das ist nicht eine Frage des Geschlechts, der Art, der Festigkeit seiner Existenz und der Unfestigkeit der meinen. Allerdings hat Malina nie ein so konvulsivisches Leben geführt wie ich, nie hat er seine Zeit verschwendet mit Nichtigkeiten, herumtelefoniert, etwas auf sich zukommen lassen, nie ist er in etwas hineingeraten, noch weniger eine halbe Stunde vor dem Spiegel gestanden, um sich anzustarren, um danach irgendwohin zu hetzen, immer zu spät, Entschuldigungen stotternd, über eine Frage oder um eine Antwort verlegen. Ich denke, daß wir auch heute noch wenig miteinander zu tun haben, einer erduldet den andern, erstaunt über den anderen, aber mein Staunen ist neugierig (staunt Malina denn überhaupt? ich glaube es immer weniger), und unruhig ist es, gerade weil meine Gegenwart ihn nie irritiert, weil er sie wahrnimmt, wenn es ihm gefällt, nicht wahrnimmt, wenn nichts zu sagen ist, als gingen wir nicht ständig aneinander vorbei in der Wohnung, unübersehbar einer für den anderen, unüberhörbar bei den alltäglichen Handlungen. Mir scheint es dann, daß seine Ruhe davon herrührt, weil ich ein zu unwichtiges und bekanntes Ich für ihn bin, als hätte er mich ausgeschieden, einen Abfall, eine überflüssige Menschwerdung, als wäre ich nur aus seiner Rippe gemacht und ihm seit jeher entbehrlich, aber auch eine unvermeidliche dunkle Geschichte, die seine Geschichte begleitet,ergänzen will, die er aber von seiner klaren Geschichte absondert und abgrenzt. Deswegen habe auch nur ich etwas zu klären mit ihm, und mich selber vor allem muß und kann ich nur vor ihm klären. Er hat nichts zu klären, nein, er nicht. Ich mache Ordnung im Vorzimmer, ich möchte in der Nähe der Tür sein, denn er wird gleich kommen, der Schlüssel bewegt sich in der Tür, ich trete ein paar Schritte zurück, damit er nicht gegen mich prallt, er schließt ab, und wir sagen gleichzeitig und liebenswürdig: guten Abend. Und während wir den Korridor entlanggehen, sage ich noch etwas:
    Ich muß erzählen. Ich werde erzählen. Es gibt nichts mehr, was mich in meiner Erinnerung stört.
    Ja, sagt Malina, ohne Verwunderung. Ich gehe ins Wohnzimmer, er geht weiter, nach hinten, denn das letzte Zimmer ist sein Zimmer.
    Ich muß und ich werde, wiederhole ich laut vor mir, denn wenn Malina nicht fragt und nichts weiter wissen will, dann ist es richtig. Ich kann beruhigt sein.
    Wenn meine Erinnerung aber nur die gewöhnlichen Erinnerungen meinte, Zurückliegendes, Abgelebtes, Verlassenes, dann bin ich noch weit, sehr weit von der verschwiegenen Erinnerung, in der mich nichts mehr stören darf.
    Was soll mich stören, an einer Stadt zum Beispiel, in der ich geboren bin, ohne die Notwendigkeit einzusehen, warum gerade dort und nicht anderswo, aber muß ich mich erinnern daran? Der Fremdenverkehrsverein gibt über das Wichtigste Auskunft, einiges fällt nicht in seine Zuständigkeit, aber auch ich bin nicht kompetent, ich muß dort aber in der Schule erfahren haben, wo ›Mannesmut und Frauentreu‹ sich zusammengetan haben und wo, in unsrer Hymne, ›des Glockners Eisgefilde‹ glänzt. Der größte Sohn unserer Stadt, Thomas Koschat, von dem die Thomas Koschatgasse zeugt, ist der Komponist des Liedes: ›Verlassn, verlassn, verlassn bin i‹, in der Bismarckschule mußte ich das Einmaleins noch einmal lernen, das ich schon konnte, in der Benediktinerschule ging ich zum Religionsunterricht, um dann nicht konfirmiert zu werden, immer am Nachmittag, mit einem Mädchen aus einer anderen Klasse, denn alle anderen, die Katholiken, hatten ihre Religion am Vormittag, und ich war darum immer frei, der junge Vikar soll einen Kopfschuß gehabt haben, der alte Dechant war streng, schnurrbärtig und hielt Fragen für unreif. Das Ursulinengymnasium hat jetzt eine verschlossene Tür, an der ich noch
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