Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Malina

Malina

Titel: Malina
Autoren: Ingeborg Bachmann
Vom Netzwerk:
Warten und Rauchen besteht, damit von ihr nichts verlorengeht. Ich muß die Telefonschnur, vorsichtig, weil sie sich verdreht hat, zehnmal mit abgehobenem Hörer herumdrehen, damit sie wieder handhabbar wird, für den Ernstfall, und dann kann ich auch, vor dem Ernstfall, schon diese Nummer wählen: 726893. Ich weiß, daß niemand antworten kann, aber es kommt mir darauf nicht an, nur daß es bei Ivan läutet, in der abgedunkelten Wohnung, und da ich weiß, wo sein Telefon steht, soll das Läuten von dort aus allem, was Ivan gehört, sagen: ich bin es, ich rufe an. Und der schwere tiefe Sessel wird es hören, in dem er gerne sitzt und plötzlich auch einschläft für fünf Minuten, und die Schränke und die Lampe, unter der wir miteinander liegen, und seine Hemden und Anzüge und die Wäsche, die er auf den Boden geworfen haben wird, damit Frau Agnes weiß, was sie in die Wäscherei bringen muß. Seit ich diese Nummer wählen kann, nimmt mein Leben endlich keinen Verlauf mehr, ich gerate nicht mehr unter die Räder, ich komme in keine ausweglosen Schwierigkeiten, nicht mehr vorwärts und nicht vom Weg ab, da ich den Atem anhalte, die Zeit aufhalte und telefoniere und rauche und warte.
    Wenn ich nun, aus irgendeinem Grund, vor zwei Jahren nicht in die Ungargasse gezogen wäre, wenn ich noch in der Beatrixgasse wohnte, wie in den Studentenjahren, oder im Ausland, wie nachher so oft, dann würde es mit mir noch einen beliebigen Verlauf nehmen, und ich hätte das Wichtigste von der Welt nie erfahren: daß alles, was mir erreichbar ist, das Telefon, Hörer und Schnur, das Brot und die Butter und die Bücklinge, die ich für Montagabend aufhebe, weil Ivan sie am liebsten ißt, oder die Extrawurst, die ich am liebsten esse, daß alles von der Marke Ivan ist, vom Haus Ivan. Auch die Schreibmaschine und der Staubsauger, die früher einen unerträglichen Lärm gemacht haben, müssen von dieser guten und mächtigen Firma aufgekauft und besänftigt worden sein, die Türen der Autos fallen nicht mehr mit einem Krach unter meinen Fenstern zu, und in die Obhut Ivans muß unversehens sogar die Natur gekommen sein, denn die Vögel singen am Morgen leiser und lassen einen zweiten, kurzen Schlaf zu.
    Aber noch sehr viel mehr geschieht seit dieser Besitzübernahme, und es kommt mir seltsam vor, daß die Medizin, die sich für eine Wissenschaft und eine rapid fortschreitende hält, nichts von diesem Vorkommnis weiß: daß hier, in diesem Umkreis, woich bin, der Schmerz im Abnehmen ist, zwischen der Ungargasse 6 und 9, daß die Unglücke weniger werden, der Krebs und der Tumor, das Asthma und der Infarkt, die Fieber, Infektionen und Zusammenbrüche, sogar die Kopfschmerzen und die Wetterfühligkeit sind abgeschwächt, und ich frage mich, ob es nicht meine Pflicht sei, die Wissenschaftler zu informieren von diesem einfachen Mittel, damit die Forschung einen großen Sprung vorwärts tun könnte, die meint, alle Übel mit immer raffinierteren Medikamenten und Behandlungen bekämpfen zu können. Hier ist auch die zitternde Nervosität, die Hochspannung, die über dieser Stadt ist, und vermutlich überall, fast beruhigt, und die Schizothymie, das Schizoid der Welt, ihr wahnsinniger, sich weitender Spalt, schließt sich unmerklich.
    Was es an Aufregung noch gibt, ist nur ein eiliges Suchen nach Haarnadeln und Strümpfen, ein leichtes Zittern beim Auftragen der Wimperntusche und beim Hantieren mit den Lidfarben, den schmalen Pinseln für die Lidstriche, bei dem Eintauchen der luftigen Wattebauschen in hellen und dunklen Puder. Oder ein ununterdrückbares Feuchtwerden der Augen beim Hin- und Herlaufen zwischen dem Badezimmer und dem Korridor, beim Suchen nach der Tasche, dem Taschentuch, ein Anschwellen der Lippen, nur solch winzige physiologische Veränderungen sind es, eine leichtere Gangart, dieeinen Zentimeter größer macht, und eine leichte Gewichtsabnahme, weil es später Nachmittag wird und die Büros zu schließen anfangen und dann die Infiltration dieser Guerillas von Tagträumen, die die Ungargasse unterwandern und aufwiegeln, sie plötzlich ganz besetzt haben mit ihren herrlichen Proklamationen und dem einzigen Losungswort, das sie für ihr Ziel wissen, und wie könnte dieses Wort, das heute schon für die Zukunft steht, anders heißen als Ivan.
    Es heißt Ivan. Und immer wieder Ivan.
    Gegen die Verderbnis und das Reguläre, gegen das Leben und gegen den Tod, gegen den zufälligen Verlauf, all diese Drohungen aus dem Radio, all die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher