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Malina

Malina

Titel: Malina
Autoren: Ingeborg Bachmann
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Schlagzeilen der Zeitungen, aus denen die Pest kommt, gegen die einsickernde Perfidie aus den oberen und unteren Stockwerken, gegen den langsamen Fraß innen und gegen das Verschlungenwerden von draußen, gegen die beleidigte Miene von Frau Breitner jeden Morgen, halte ich hier meine frühe Abendstellung und warte und rauche, immer zuversichtlicher und sicherer und so lange und so sicher, wie es niemand gegeben ist, denn ich werde siegen in diesem Zeichen.
    Wenn Ivan auch gewiß für mich erschaffen worden ist, so kann ich doch nie allein auf ihn Anspruch erheben. Denn er ist gekommen, um die Konsonanten wieder fest und faßlich zu machen, um die Vokale wieder zu öffnen, damit sie voll tönen, um mir die Worte wieder über die Lippen kommen zu lassen, um die ersten zerstörten Zusammenhänge wiederherzustellen und die Probleme zu erlösen, und so werde ich kein Jota von ihm abweichen, ich werde unsre identischen, hellklingenden Anfangsbuchstaben, mit denen wir unsre kleinen Zettel unterzeichnen, aufeinanderstimmen, übereinanderschreiben, und nach der Vereinigung unserer Namen könnten wir vorsichtig anfangen, mit den ersten Worten dieser Welt wieder die Ehre zu erweisen, damit sie wünschen muß, sich wieder die Ehre zu geben, und da wir die Auferstehung wollen und nicht die Zerstörung, hüten wir uns, einander schon öffentlich mit den Händen zu berühren, und auch nur heimlich fassen wir einander ins Aug, denn mit seinen Blicken muß Ivan erst die Bilder aus meinen Augen waschen, die vor seinem Kommen auf die Netzhaut gefallen sind, und nach vielen Reinigungen taucht dann doch wieder ein finsteres, furchtbares Bild auf, beinah nicht zu löschen, und Ivan schiebt mir dann rasch ein lichtes darüber, damit kein böser Blick von mir ausgeht, damit ich diesen entsetzlichen Blick verliere, von dem ich weiß, wieso ich ihn bekommen habe, aber ich erinnre mich nicht, erinnre mich nicht ...
    (Noch kannst du es nicht, noch immer nicht, vieles stört dich ...)
    Aber weil Ivan mich zu heilen anfängt, kann es nicht mehr ganz schlimm sein auf Erden.
    Obwohl es einmal alle wußten, aber da es heute keiner mehr weiß, warum es heimlich zu geschehen hat, warum ich die Tür schließe, den Vorhang fallen lasse, warum ich allein vor Ivan trete, werde ich einen Grund dafür verraten. Ich will es so, nicht um uns zu verbergen, sondern um ein Tabu wiederherzustellen, und Malina hat es verstanden, ohne daß ich es ihm erklären mußte, denn sogar wenn mein Schlafzimmer offensteht und ich allein bin oder er ganz allein in der Wohnung ist, geht er vorüber und zu seinem Zimmer, als stünde da nie eine Tür offen, als wäre nie eine verschlossen, als wäre da gar kein Raum, damit nichts profaniert wird und die ersten Kühnheiten und die letzten sanften Ergebenheiten wieder eine Chance haben. Auch Lina räumt hier nicht auf, denn niemand hat dieses Zimmer zu betreten, nichts ereignet sich und eignet sich dazu, preisgegeben, seziert und analysiert zu werden, denn Ivan und ich schleifen, rädern, foltern und ermorden einander nicht, und so stellen wir uns einer vor den anderen und schützen, was uns gehört und nicht zu greifen ist. Weil Ivan mich nie fragt, nie mißtrauisch ist, mich nie verdächtigt, schwindet mein Verdacht. Weil er die zwei widerspenstigen Haare am Kinn nicht mustert, auch die zwei ersten Falten unter den Augen nicht notiert, weil ihn mein Husten nach der ersten Zigarette nicht stört, er mir sogar die Hand auf den Mund legt, wenn ich etwas Unbedachtes sagen will, sage ich ihm in einer anderen Sprache alles, was ich noch nie gesagt habe, mit Haut und Haar, denn nie wird er wissen wollen, was ich tagsüber tue, was ich früher gemacht habe, warum ich erst um drei Uhr früh nach Hause gekommen bin, warum ich gestern keine Zeit hatte, warum das Telefon heute eine Stunde lang besetzt war und wem ich jetzt antworte am Telefon, denn sowie ich ansetze mit einem gewöhnlichen Satz und sage: Ich muß dir das erklären, unterbricht Ivan mich: Warum, was mußt du mir erklären, nichts, überhaupt nichts, wem mußt du etwas erklären, doch mir nicht, niemand, denn es geht doch niemand etwas an –
    Aber ich muß.
    Mich kannst du gar nicht anlügen, das weiß ich, ich weiß es doch.
    Aber doch nur, weil ich nicht muß!
    Warum lachst du? Es wäre ja keine Schande, du könntest es trotzdem tun. Versuch es doch, aber du kannst nicht.
    Und du?
    Ich? Mußt du das fragen?
    Ich muß nicht.
    Versuchen kann ich es ja, aber manchmal werde
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