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Malina

Malina

Titel: Malina
Autoren: Ingeborg Bachmann
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Geschehen, von dem man vorher nichts wissen kann, nie gewußt hat, von dem man nie etwas gehört oder gelesen hat, braucht eine äußerste Beschleunigung, damit es zustande kommen kann. Eine Kleinigkeit könnte es im Beginn ersticken, abwürgen, es im Anlauf zum Stillstand bringen, so empfindlich sind Anfang und Entstehen dieser stärksten Macht in der Welt, weil die Welt eben krank ist und sie, die gesunde Macht, nicht aufkommen lassen will. Ein Autohupen hätte einfallen können in den ersten Satz, ein Polizist, der einen schlecht parkierten Motorroller hätte aufschreiben können, ein Passant hättegrölend zwischen uns torkeln können, ein Bursche mit einem Lieferwagen hätte uns die Sicht verstellen können, mein Gott, es ist nicht auszudenken, was alles hätte dazwischenkommen können! Ich hätte, durch die Sirene eines Rotkreuzwagens abgelenkt, auf die Straße blicken können, anstatt hinüber zu dem Strauß Türkenbund im Fenster, oder Ivan hätte jemand um Feuer bitten müssen, und schon wäre ich nicht von ihm gesehen worden. Weil wir in soviel Gefahr waren, weil schon drei Sätze, an dieser Stelle vor dem Schaufenster, zuviel gewesen wären, sind wir von der heißen gefährlichen Stelle rasch miteinander weggegangen und haben vieles auf sich beruhen lassen. Darum haben wir lange gebraucht, bis wir über die ersten kleinen nichtssagenden Sätze hinausgefunden haben. Ich weiß nicht einmal, ob man heute schon sagen dürfte, daß wir miteinander reden und uns unterhalten können wie andere Menschen. Aber wir haben keine Eile. Es bleibt uns noch das ganze Leben, sagt Ivan.
    Immerhin haben wir uns ein paar erste Gruppen von Sätzen erobert, törichten Satzanfängen, Halbsätzen, Satzenden, von der Gloriole gegenseitiger Nachsicht umgeben, und die meisten Sätze sind bisher unter den Telefonsätzen zu finden. Wir üben sie wieder und wieder, denn Ivan ruft mich einmal vondem Büro am Kärntnerring an oder ein zweites Mal spät nachmittags oder abends von zu Hause aus.
    Hallo. Hallo?
    Ich, wer denn sonst
    Ja, natürlich, verzeih
    Wie es mir? Und dir?
    Weiß ich nicht. Heute abend?
    Ich verstehe dich so schlecht
    Schlecht? Was? Du kannst also
    Ich höre dich nicht gut, kannst du
    Was? Ist etwas?
    Nein, nichts, du kannst mich später noch
    Natürlich, ich rufe dich besser später an
    Ich, ich sollte zwar mit Freunden
    Ja, wenn du nicht kannst, dann
    Das habe ich nicht gesagt, nur wenn du nicht
    Jedenfalls telefonieren wir später
    Ja, aber gegen sechs Uhr, weil
    Das ist aber schon zu spät für mich
    Ja, für mich eigentlich auch, aber
    Heute hat es vielleicht keinen Sinn
    Ist jemand hereingekommen?
    Nein, nur Fräulein Jellinek ist jetzt
    Ach so, du bist nicht mehr allein
    Aber später bitte, bitte bestimmt!
    Ivan und ich haben Freunde und außerdem Leute, nur ganz selten jemand, von dem er oder ich wissen, um wen es sich dabei handelt und wie diese Personen heißen. Mit den Freunden und den Leuten müssen wir abwechselnd essen gehen, uns zumindest mit ihnen auf einen Sprung ins Kaffeehaus setzen oder wir müssen etwas unternehmen mit Ausländern, ohne zu wissen, was anfangen mit ihnen, und meistens müssen wir noch einen Anruf abwarten. Nur sollte doch ein einziges Mal, aber auch nur ein Mal der Zufall es wollen, daß Ivan und ich einander begegnen in der Stadt, er mit Leuten, ich mit Leuten, dann wüßte er wenigstens, daß ich auch anders aussehen kann, daß ich mich anziehen kann (was er bezweifelt), daß ich gesprächig bin (was er noch mehr bezweifelt). Denn in seiner Gegenwart werde ich still, weil die geringsten Worte: ja, gleich, so, und, aber, dann, ach! so geladen sind, aus mir mit einer hundertfachen Bedeutung kommen für ihn, tausendmal mehr bewirkend als die unterhaltsamen Erzählungen, Anekdoten, herausfordernden Wortscheingefechte, die Freunde und Leute von mir kennen, und Gesten, Capricen, Allüren zum Schein, denn für Ivan habe ich nichts zum Schein, tu ich nichts, um zu scheinen, und dankbar bin ich, wenn ich ihm seinen Drink und das Essen richten darf, ihm heimlich hie und da schon die Schuhe putze, mit dem Fleckenwasser anseiner Jacke hantieren darf, und: So, das haben wir! heißt mehr als Stirnrunzeln vor einer Speisekarte, vor Leuten glänzend aufgelegt sein, eine Debatte führen, ein Einsammeln von Handküssen und Wiedersehenswünschen, als die animierten Heimfahrten mit Freunden, noch ein Glas in der Loos-Bar, Küsse links und rechts und: auf bald! Denn wenn Ivan zum Mittagessen ins
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