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Abtruennig

Abtruennig

Titel: Abtruennig
Autoren: Vanessa Dungs
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Prolog – Der kleine Engel

    Ich ließ meinen Blick über die Lichter der Stadt gleiten. London war ein Paradies für unseresgleichen, dunkle, verwinkelte Gassen, die an belebte Einkaufsstraßen und elegante Wohnviertel anknüpften. Das pulsierende Leben war direkt unter uns, zum Greifen nah, aber wir blieben im Verborgenen.
    Peter stand abwartend neben mir, die Hände bereits zu Fäusten geballt. Sein kastanienbraunes Haar fiel ihm in die Stirn, doch ich konnte trotzdem die Ungeduld in seinen Augen erkennen. Sein Mund war geöffnet und die Spitzen seiner Eckzähne blitzten mich kampfbereit an. Er war in Position und lauerte begierig auf mein Signal zum Angriff. Es war soweit.
    Ich nickte ihm zu und lehnte mich dabei zurück. Mit genug Schwung stieß ich mich kraftvoll ab und Peter tat es mir gleich. Wir sprangen durch die Luft, wie zwei Raubkatzen auf Beutefang und im nächsten Moment landeten wir auch schon auf dem Dach eines abrissreifen Bürogebäudes. Lautlos. Selbst die Geschöpfe dort unten in der Gasse konnten uns nicht hören, denn der schier übermächtige Durst vernebelte ihre – sonst so präzisen – Sinne.
    Es war unsere Aufgabe sie aufzuhalten. Schon viel zu oft hatten wir die Spuren der Verwüstung rückgängig machen müssen, aber manchmal kamen wir zu spät.
    Es hatte Opfer gegeben. Unschuldige, die entweder als Nahrung dienten oder verwandelt wurden, ohne dass sie eine Wahl gehabt hätten. Heute Nacht würde es zumindest für vier von ihnen zu Ende gehen.
    Es waren ausschließlich männliche Artgenossen. Sie hatten eine Gruppe Schüler im Visier, drei Teenager, ein Mädchen und zwei Jungen, gerade mal elf oder zwölf Jahre alt. Ihr Blutgeruch stieg mir in die Nase und für den Bruchteil einer Sekunde begriff ich, warum die Vampire es auf sie abgesehen hatten. Sie waren so rein und unschuldig. In meinem Kiefer begann es zu pochen und ich ließ meinem Instinkt freien Lauf. Messerscharfe Fänge schoben sich aus meinem Zahnfleisch und vereinigten sich in wenigen Augenblicken mit den stumpfen Zähnen. Die menschlich aussehenden Eckzähne wichen blitzschnell meiner tödlichsten Waffe.
    Ich atmete hastig die kalte Luft ein und sog sie gierig in meine Lungen, auch wenn ich sie nicht zum Leben benötigte, so half sie mir dennoch daran zu denken, warum wir hier waren. Ich war nicht so, wie diese Monster dort unten in der Gasse, aber das durfte ich auch nicht vergessen.
    Die Vampire trieben die ängstlichen Kinder eilig zusammen. Sie saßen in der Falle, wie Lämmer auf der Schlachtbank.
    „ Es wird nur ein bisschen weh tun, meine Kleine“, lachte einer.
    Er hatte das dünne Mädchen im Arm und seine scharfen Eckzähne blitzten im Licht einer altersschwachen Straßenlaterne. Sie war starr vor Angst, kein Laut kam über ihre blassen Lippen.
    „ Na, los Declan. Worauf wartest du?“
    Einer von ihnen schien ungeduldig zu werden.
    Der andere Vampir fuhr wütend zu ihm herum.
    „ Halt deine verdammte Klappe!“
    „ Ist ja gut.“
    Mit erhobenen Händen wich er vor seinem größeren Artgenossen zurück.
    „ Ich werde es genießen, kapiert?“
    Der Vampir, der anscheinend das Sagen hatte, drehte sich wieder um. In seinen Mundwinkeln zuckte ein dämonisches Grinsen, als er sich wieder seiner potenziellen Beute widmete.
    Ich gab meinem Verbündeten ein Zeichen und im gleichen Augenblick sprangen wir in die Tiefe. Der Verräter kam nicht dazu, sein auserwähltes Opfer zu beißen, denn ich war blitzschnell bei ihm. Ohne zu zögern, riss ich seinen linken Arm herum, mit dem er das Mädchen festhielt. Die Kleine fiel zu Boden, doch noch immer gab sie keinen Laut von sich. Der Vampir dagegen schrie vor Schmerz; ich hatte sein Handgelenk gebrochen. Unnachgiebig zwang ich ihn in die Knie, meine Kraft ging weit über seine hinaus, er hatte keine Chance meinem Griff zu entkommen. Ich hatte allerdings auch nichts anderes erwartet. Er war noch nicht lange einer von uns und er würde auch niemals so werden wie Peter oder ich, für ihn würde es jetzt enden.
    Bevor ich diesem Abtrünnigen seine gerechte Strafe zufügen würde, wandte ich mich zu dem Mädchen. Sie lag zitternd neben mir auf dem Asphalt und ihre großen blauen Augen starrten mich voller Panik an. In dieser Sekunde überkam mich ein völlig unerwartetes Gefühl. – Nein, es war mehr ein Verlangen! Ich wollte ihr diese Furcht nehmen und mehr noch, ich wollte nicht, dass sie das alles mit ansehen musste. Eigentlich durfte es überhaupt keine Rolle spielen, es
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