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Abtruennig

Abtruennig

Titel: Abtruennig
Autoren: Vanessa Dungs
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machen, sie würde mich für bescheuert halten. Abgesehen davon war diese ganze Sache hier schon absurd genug, ich musste nicht noch mehr Aufsehen erregen. Mir war es schlussendlich gleich, ob ich nun vor der Tür wartete oder hier drinnen saß. Solange ich mich ruhig verhielt, würde ich auch nicht auffallen. Ich war jedenfalls erleichtert, dass ich – dank der beiden Vampire in der letzten Nacht – nicht durstig war. Glücklicherweise hatte ich in vielerlei Hinsicht vorgesorgt. Ich lehnte mich in dem unbequemen Stuhl etwas zurück und stellte mich seelisch darauf ein, die nächste Stunde in diesem Raum voller junger Menschen auszuharren. Mein Handy vibrierte und zeigte mir an, dass ich eine Kurzmitteilung bekommen hatte. Ich wusste sofort, dass sie von Toby sein musste. Seine perplexe Nachfrage, ob er auch wirklich alles richtig verstanden hatte, ließ mich schmunzeln. Er konnte es vermutlich ebenso wenig fassen, wie meine innere Stimme, dass ich tatsächlich an einer Vorlesung teilnehmen würde. Ich antwortete Toby schnell und steckte mein Telefon zurück in meine Hosentasche. Es vergingen nur wenige Minuten, bis der Hörsaal restlos belegt war – auch das noch – und ein kleiner, grauhaariger Mann als Letzter den Raum betrat. Er begrüßte seine `eifrigen Schüler´ in schnörkellosem Oxfordenglisch und fuhr sogleich mit seiner, wie er sagte, persönlichen Leidenschaft fort. William Shakespeare! Ich dachte, das war ein Kurs für Philosophie? Der Professor erklärte, als wenn er meine Gedanken gehört hätte, dass Literatur und Philosophie seiner Meinung nach im Einklang miteinander verbunden waren.
    Ich schloss meine Augen und grummelte vor mich hin, denn das würden verdammt lange Minuten werden. Ich blendete das Geschwafel einfach aus und versuchte mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Nur auf was? Vielleicht auf das, was mich dazu gebracht hatte hier zu sein. Diese kleine Sache, die dafür sorgte, dass ich mich unter so vielen Sterblichen aufhielt. Möglicherweise konnte ich Lesleys Herz schlagen hören, sie war schließlich nicht weit von mir entfernt. Wenn ich mich konzentrieren würde…
    Ich wurde ruckartig unterbrochen, als mich jemand in die Seite piekste. Ich hatte die Bewegung nicht kommen sehen.
    Das war mir noch nie passiert. War ich in Trance gewesen?
    „ Hey, psst, du bist gemeint!“
    Ich starrte den jungen Mann, der neben mir saß, irritiert an.
    „ Was?“
    Er bedeutete mir mit einer Kopfbewegung nach vorne zu schauen. Ich folgte seiner Aufforderung und sah, dass der ältere Mann vor uns mich mit seinem Blick taxierte.
    „ Ja, ich meinte sie, Sir. Sie hatten ihre Augen geschlossen, aber ich will mal eher davon ausgehen, dass sie nur hochkonzentriert waren und nicht geschlafen haben, nicht wahr?“
    Mehrere menschliche Augenpaare betrachteten mich plötzlich abschätzend. Selbst Lesley drehte sich zu mir um, doch ich wich ihrem Blick aus. Na toll! So viel zum Thema nicht auffallen.
    „ Nun“, fuhr der Professor fort. „Können sie uns jetzt verraten, welche vier Werke Shakespeares zu den späteren Tragödien zählen? Hamlet, Othello und König Lear wurden bereits genannt. Wie lautet das vierte Stück?“
    Er starrte mich abwartend an.
    Wieder wog ich blitzschnell meine Möglichkeiten ab. Ich konnte den kompletten Hörsaal in wenigen Augenblicken auslöschen, aber dann würde ich gegen meine eigenen Regeln verstoßen, abgesehen davon war Lesley auch hier drin. Also…
    Ach, was soll's!
    „ Es handelt sich eigentlich um fünf an der Zahl. Timon von Athen aus dem Jahre 1606 und nicht zu vergessen Macbeth, um 1608 entstanden! Beide wurden allerdings erst im Jahre 1623 gedruckt.“
    Die Stirn des Professors legte sich in Falten.
    „ Ausgezeichnet!“
    Er lächelte anerkennend, dann wandte er sich aber auch schon wieder von mir ab und erzählte irgendetwas von den verlorenen Jahren. Ich hörte nicht mehr zu und starrte stattdessen auf den Boden. Ich wollte keinen der Studenten mehr ansehen, obwohl das jetzt auch völlig egal war, weil ich nun sowieso schon aufgefallen war, auch wenn es durch eine absolut korrekte Antwort war. Sollten weitere Fragen gestellt werden, so würde ich auch auf diese problemlos reagieren können. Ich kannte mich mit diesem Thema gut aus, obwohl ich es nicht unbedingt spannend fand, aber das spielte auch gar keine Rolle. William hatte zwar viele Jahrzehnte vor meiner Zeit gelebt, doch es hatte sich als äußerst praktisch erwiesen einen Ziehvater zu haben, der
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