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Malina

Malina

Titel: Malina
Autoren: Ingeborg Bachmann
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Geist eines Menschen verlischt, aber den Namen dieses Mannes nenne ich nicht, denn wichtiger ist, daß mir dazu gleich das Kino hinter dem Kärntnerring einfiel, in dem ich zwei Stunden lang, in Farben vertan und in viel Dunkelheit, zum erstenmal Venedig gesehen habe, die Schläge der Ruder ins Wasser, auch eine Musik zog mit Lichtern durchs Wasser und ihr dadim, dadam, das mich mitzog, hinüber in die Figuren, die Doppelfiguren und ihre Tanzschritte. So war ich in das Venedig gekommen, das ich nie sehen werde, an einem windigen, klirrenden Wiener Wintertag. Die Musik habe ich oft wiedergehört, improvisiert, variiert, aber nie mehr so und richtig, einmal aus einem Nebenzimmer, wo man sie zerfetzte während einer mehrstimmigen Diskussion über den Zusammenbruch der Monarchie, die Zukunft des Sozialismus, und einer begann zu schreien, weil ein anderer etwas gegen den Existentialismus oder den Strukturalismus gesagt hatte, und ich horchte vorsichtig noch einen Takt heraus, aber da war die Musik schon zugrunde gegangen im Geschrei, und ich ohne mich, weil ich sonst nichts mehr hören wollte. Oft will ich ja nicht hören, und oft kann ich nicht sehen. So wie ich das sterbende Pferd nicht ansehen konnte, das von dem Felsen gestürzt war bei Hermagor, für dasich zwar kilometerweit um Hilfe ging, aber ich ließ es bei dem Hüterbuben zurück, der auch nichts tun konnte, oder wie ich die Große Messe von Mozart nicht hören konnte und nicht die Schüsse auf einem Dorf im Fasching.
    Ich will nicht erzählen, es stört mich alles in meiner Erinnerung. Malina kommt ins Zimmer, er sucht nach einer halbleeren Whiskyflasche, gibt mir ein Glas, schenkt sich eines ein und sagt: Noch stört es dich. Noch. Es stört dich aber eine andre Erinnerung.

Erstes Kapitel
Glücklich mit Ivan
    Wieder geraucht und wieder getrunken, die Zigaretten gezählt, die Gläser, und noch zwei Zigaretten zugelassen für heute, weil zwischen heute und Montag drei Tage sind, ohne Ivan. Sechzig Zigaretten später aber ist Ivan zurück in Wien, er wird zuerst die Zeitansage anrufen und seine Uhr kontrollieren, dann den Weckauftrag 00, der gleich zurückruft, danach sofort einschlafen, so rasch wie nur Ivan das kann, aufwachen, vom Weckauftrag gerufen, mit einem Groll, dem er jedesmal einen anderen Ausdruck gibt, mit Gestöhne, Flüchen, Ausbrüchen, Anklagen. Dann hat er all den Groll vergessen und ist mit einem Sprung im Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen, dann unter die Dusche zu gehen, dann sich zu rasieren. Er wird den Transistor anstellen und die Frühnachrichten hören. Österreich I . APA . Wir bringen Kurznachrichten: Washington ...
    Aber Washington und Moskau und Berlin sind bloß vorlaute Orte, die versuchen, sich wichtig zu machen. In meinem Ungargassenland nimmt niemand sie ernst oder man lächelt über solche Aufdringlichkeiten wie über die Kundgebungen ehrgeiziger Emporkömmlinge, sie können nie mehr hereinwirken in mein Leben, mit dem ich in ein anderes hineingelaufen bin, auf der Landstraßer Hauptstraße, vor diesem Blumengeschäft, dessen Namen ich noch herausfinden muß, und stehengeblieben bin ich im Laufen nur, weil im Fenster ein Strauß Türkenbund stand, rot und siebenmal röter als rot, nie gesehen, und vor dem Fenster stand Ivan, weiter weiß ich nichts mehr, denn ich bin sofort mit Ivan gegangen, zuerst bis zum Postamt in der Rasumofskygasse, wo wir zu zwei verschiedenen Schaltern gehen mußten, er zu ›Postanweisungen‹, ich zu ›Postwertzeichen‹, und schon diese erste Trennung war so schmerzhaft, daß ich am Ausgang, beim Wiederfinden von Ivan, kein Wort mehr herausbrachte, Ivan mich nichts zu fragen brauchte, denn es war kein Zweifel in mir, daß ich mit ihm weitergehen mußte und gleich zu ihm, das war zu meinem Staunen aber nur einige Häuser von mir. Die Grenzen waren bald festgelegt, es ist ja nur ein winziges Land, das zu gründen war, ohne Gebietsansprüche und ohne rechte Verfassung, ein trunkenes Land, in dem bloß zwei Häuser stehen, die man auch im Dunkeln finden kann, bei Sonnen- und Mondfinsternis, und ich weiß auswendig, wieviel Schritte ich machen muß, von mir schräg zu Ivans Haus, ich könnte auch mit verbundenen Augen gehen. Nun ist die weitere Welt, in der ich bisher gelebt habe – ich immer inPanik, mit trocknem Mund, mit der Würgspur am Hals –, auf ihre geringfügige Bedeutung reduziert, weil eine wirkliche Kraft sich dieser Welt entgegensetzt, wenn diese Kraft auch, wie heute, nur aus
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