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Maigret und der Treidler der Providence

Maigret und der Treidler der Providence

Titel: Maigret und der Treidler der Providence
Autoren: Georges Simenon
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fragte Maigret.
    Man zeigte ihm das Fenster, das etwa zwei Meter über dem Erdboden war. Auf der Erde erkannte man die Abdrücke von zwei nackten Füßen sowie eine große Spur, die vermuten ließ, daß der Treidler zunächst der Länge nach hingefallen war.
    »Da, sehen Sie! Die Krankenschwester, Mademoiselle Berthe, hat die Nacht im Schwesternzimmer verbracht, wie üblich. Sie hat nichts gehört. Gegen drei Uhr hat sie sich um jemanden in Zimmer 8 kümmern müssen und einen Blick in Zimmer 10 geworfen. Die Lampen waren gelöscht. Alles war ruhig. Sie kann nicht sagen, ob der Mann noch in seinem Bett lag.«
    »Und die beiden anderen Kranken?«
    »Der eine muß dringendst trepaniert werden. Wir warten auf den Chirurgen. Der andere hat geschlafen, ohne einmal wach zu werden.«
    Maigrets Blicke folgten den Spuren, die zu einem Blumenbeet führten, wo ein kleiner Rosenstrauch niedergetreten worden war.
    »Bleibt das Tor immer offen?«
    »Das ist doch kein Gefängnis hier!« erwiderte der Direktor. »Und wie sollen wir ahnen, daß ein Kranker aus dem Fenster springt? Nur die Tür des Gebäudes war abgeschlossen, wie immer.«
    Draußen hatte es keinen Sinn, nach Fußspuren zu suchen. Die Wege waren gepflastert. Zwischen zwei Häusern konnte man die doppelte Reihe der Bäume am Kanal sehen.
    »Um es kurz zu machen«, fügte der Arzt hinzu, »ich war mir ziemlich sicher, ihn heute morgen tot vorzufinden. Und wenn man sowieso nichts mehr tun kann … Das war auch der Grund, warum ich ihn auf Zimmer 10 habe legen lassen.«
    Er war gereizt, denn er hatte die Vorwürfe, die der Direktor ihm machte, noch nicht verdaut.
    Maigret drehte einen Moment lang im Garten eine Runde, wie ein Zirkuspferd, und ging dann plötzlich, während er statt eines Grußes die Krempe seines steifen Hutes hochschob, in Richtung Schleuse davon.
    Die ›Southern Cross‹ fuhr gerade ein. Mit der Geschicklichkeit eines gelernten Seemannes warf Wladimir die Schlinge eines Taus um einen Poller und stoppte das Boot scharf ab.
    Der Colonel, der einen langen Ölmantel trug, die weiße Mütze auf dem Kopf, blieb derweil unerschütterlich vor dem kleinen Ruderrad stehen.
    »Die Tore!« schrie der Schleusenwärter.
    Es waren nur noch etwa zwanzig Schiffe durchzuschleusen.
    »Ist sie an der Reihe?« erkundigte sich Maigret und zeigte dabei auf die Yacht.
    »An der Reihe oder nicht an der Reihe – wie man’s nimmt! Wenn man sie als Motorschiff ansieht, hat sie Vorrang vor den Treidelkähnen. Als Sportboot hingegen … Was soll’s! Davon kommen hier so wenige vorbei, daß man sich nicht so an die Regeln klammert. Und da sie den Schiffern ein Trinkgeld gegeben haben …«
    Diese Schiffer waren es auch, die die Schieber bedienten.
    »Und die ›Providence‹?«
    »Die lag im Weg. Heute morgen hat sie an der Biegung festgemacht, hundert Meter weiter aufwärts, vor der zweiten Brücke … Haben Sie schon etwas von dem Alten gehört? Das ist eine Geschichte, die mich teuer zu stehen kommen wird! Aber machen Sie mir das erst mal vor! Eigentlich darf nämlich nur ich allein durchschleusen. Wenn ich das machte, würden jeden Tag hundert Schiffe warten. Vier Tore! Sechzehn Schieber! Und wissen Sie, was ich verdiene?«
    Er mußte sich einen Augenblick entfernen, weil Wladimir ihm die Papiere und ein Trinkgeld hinhielt.
    Maigret nutzte das aus, um den Kanal entlangzugehen. An der Biegung erblickte er die ›Providence‹, die er inzwischen schon von weitem unter hundert anderen Kähnen erkannt hätte.
    Aus dem Schornstein stieg etwas Rauch auf. An Deck war niemand zu sehen; alle Luken waren dicht.
    Fast wäre er über die Planke am Heck hinaufgegangen, die zu der Wohnung der Schiffer führte.
    Aber er überlegte es sich anders und nahm die große Rampe, die dazu diente, die Pferde an Bord zu holen.
    Eine der Platten, die den Stall bedeckten, war hochgeklappt. Das eine Pferd hatte den Kopf herausgestreckt und schnupperte den Wind.
    Als Maigret hineinblickte, erkannte er hinter den Beinen des Tieres eine dunkle Gestalt, die auf dem Stroh ausgestreckt lag. Und dicht daneben kauerte die Brüsselerin mit einer Schale Kaffee in der Hand.
    Mütterlich und mit seltsam sanfter Stimme murmelte sie:
    »Kommen Sie, Jean … Trinken Sie, solange er heiß ist! Das wird Ihnen guttun, Sie alter Narr … Soll ich Ihnen den Kopf anheben?«
    Aber der Mann, der neben ihr lag, rührte sich nicht und betrachtete den Himmel.
    Vor diesem Himmel zeichnete sich der Kopf Maigrets ab, den er sehen
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