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Maigret und der Treidler der Providence

Maigret und der Treidler der Providence

Titel: Maigret und der Treidler der Providence
Autoren: Georges Simenon
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mußte.
    Und der Kommissar hatte den Eindruck, daß über das mit Heftpflaster gestreifte Gesicht ein zufriedenes, ironisches, ja sogar aggressives Lächeln huschte.
    Der alte Treidler versuchte die Hand zu heben, um die Schale fortzuschieben, die die Schiffersfrau ihm an die Lippen hielt. Aber sie fiel kraftlos zurück, ganz runzlig, schwielig und mit kleinen blauen Punkten übersät, die offenbar von früheren Tätowierungen zurückgeblieben waren.

9
    Der Arzt
    Sehen Sie! Er hat sich zu seiner Hütte zurückgeschleppt wie ein verwundetes Tier.«
    Wußte die Schiffersfrau eigentlich, wie es um den Verletzten stand? Jedenfalls verlor sie nicht die Nerven. Sie war so ruhig, als kümmere sie sich um ein Kind, das die Grippe hat.
    »Kaffee kann ihm doch nicht schaden, oder? Aber er will nichts nehmen … Es muß heute morgen gegen vier gewesen sein, als mein Mann und ich plötzlich von einem lauten Geräusch an Bord hochgeschreckt wurden. Ich nahm den Revolver und sagte ihm, er solle mir mit der Laterne folgen.
    Ob Sie mir glauben oder nicht: Jean lag da, ungefähr so, wie Sie ihn sehen. Er muß vom Deck heruntergefallen sein. Das sind fast zwei Meter.
    Zuerst konnten wir nicht viel erkennen. Einen Augenblick lang glaubte ich, er sei tot. Mein Mann wollte ein paar Leute herbeiholen, die uns helfen sollten, ihn auf ein Bett zu legen. Aber Jean bekam alles mit. Er fing an, meine Hand zu drücken. Und wie er sie drückte! Als ob er sich daran hätte festklammern wollen. Und ich sah, wie ihm die Tränen kamen.
    Ich verstand. Denn in den acht Jahren, die er schon bei uns ist … Nicht wahr? Er kann nicht sprechen. Aber ich glaube, er versteht, was ich sage … Stimmt es, Jean? Hast du Schmerzen?«
    Es war schwer zu sagen, ob die Augen des Verletzten leuchteten, weil er bei klarem Bewußtsein war oder weil er Fieber hatte.
    Die Frau nahm einen Strohhalm fort, der sein Ohr berührte.
    »Wissen Sie, meine Welt, das ist mein kleiner Haushalt, meine Küche, meine paar Möbel. Ich glaube, wenn man mir einen Palast schenken würde, wäre ich unglücklich darin. Bei Jean ist es der Pferdestall. Und seine Tiere! Verstehen Sie?
    Es gibt zum Beispiel Tage, an denen wir nicht fahren, sondern nur entladen. Jean hat dann nichts zu tun. Er könnte in ein Bistro gehen. Aber nein! Er legt sich hin, hier an diesem Platz. Er richtet es so ein, daß er ein paar Sonnenstrahlen mitbekommt …«
    Und Maigret versetzte sich in Gedanken an die Stelle, an der sich der Treidler befand, sah zu seiner Rechten die geteerte Zwischenwand mit der Peitsche, die an einem krummen Nagel hing, und dem Zinnbecher an einem anderen, ein Stück Himmel zwischen den Abdeckplatten und dahinter die muskulösen Kruppen der Pferde.
    Dem Ganzen entstieg eine animalische Wärme, ein intensiver Dunst dichtgedrängten Lebens, der einem den Hals rauh werden ließ wie der herbe Wein mancher Lagen.
    »Sagen Sie, er kann doch hier bleiben, oder?«
    Sie gab dem Kommissar ein Zeichen, ihr nach draußen zu folgen. Die Schleuse arbeitete ebenso hektisch wie am Abend zuvor. Und ringsum sah man die Straßen der Stadt mit ihrem Gewimmel, das dem Kanal so fremd war.
    »Er wird doch ohnehin sterben, nicht wahr? Was hat er getan? Sie können es mir ruhig sagen. Aber ich, ich konnte Ihnen doch nichts sagen, das müssen Sie zugeben! Zumal ich gar nichts weiß.
    Einmal, ein einziges Mal, hat mein Mann Jean mit nacktem Oberkörper gesehen. Er hat Tätowierungen bemerkt. Nicht die, wie manche Schiffer sie haben. Wir haben die Vermutung gehabt, die Sie wahrscheinlich auch gehabt hätten … Ich glaube, er ist mir deshalb noch mehr ans Herz gewachsen. Ich sagte mir, daß er wahrscheinlich ganz anders war, als er sich gab, daß er sich versteckte. Nicht für alles in der Welt hätte ich ihn danach gefragt.
    Sie glauben doch nicht etwa, daß er die Frau umgebracht hat? Aber wenn, hören Sie, das schwöre ich Ihnen, dann hatte sie es verdient!
    Jean, der ist nämlich …«
    Sie suchte nach einem passenden Ausdruck für das, was sie sagen wollte, fand aber keinen.
    »Ah, das wird mein Mann sein, der steht gerade auf. Ich habe ihn ins Bett geschickt, weil er es schon immer ein wenig auf der Brust gehabt hat. Was meinen Sie: Wenn ich eine richtige starke Bouillon kochen würde …«
    »Die Ärzte werden gleich kommen. Bis dahin ist es wohl besser …«
    »Muß das denn sein, daß sie kommen? Sie werden ihm wehtun und ihm die letzten Augenblicke vergällen, die er …«
    »Es muß sein.«
    »Er ist
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