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Magnolienschlaf - Roman

Magnolienschlaf - Roman

Titel: Magnolienschlaf - Roman
Autoren: Eva Baronsky
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erlebenmüssen, wenn sie kommen.« Ihr Äußeres zittert, aber in sich fühlt Wilhelmine eine sonderbare Ruhe, als hätte ein Sturm sich
     vor der Zeit gelegt.
    »Wenn sie kommen? Russische Soldaten?«
    Wilhelmine nickt. »Gisela wäre doch die Erste gewesen. Sie war so jung und … Und wir Frauen alle, da war nur der alte Herr
     Zielen, der Apotheker …« Das ist ein so feiner Herr gewesen, immer korrekt. Schweigsam und korrekt. Ein stilles Wasser war
     das, ja. »Von Würde hat er geredet, ich habe gar nicht sofort begriffen, was er meinte. Aber dann war es, als hätte er eine
     Tür geöffnet, die vorher nicht da gewesen war, und ich war mit einem Mal so erleichtert, so unendlich befreit.«
    Wie eingebrannt ist das Bild der blauen Verbandsdose mit dem Pulver darin. Wilhelmine sieht sie alle dort sitzen, die Frauen,
     alt und jung, im dünnen Licht, und eine nach der anderen nickt. Nur die Schwangere ist weg, die hat sich schon ein paar Tage
     zuvor in den Bunker geflüchtet.
    Herr Zielen deutet mit dem Kopf auf Gisela und sieht Wilhelmine fragend an. Diesen Blick hat sie ihr Lebtag nicht vergessen.
     Diesen Moment, den sie zögert, während sie auf das schlafende Kind hinuntersieht und sich alles in ihr zusammenschnürt. Diesen
     Moment, in dem sie nickt und sofort weiß, dass sie ihre ganze Liebe von jetzt auf gleich vertrocknen lassen muss, um das überhaupt
     fertigzubringen.
    Dumpfes Grollen aus der Ferne, als sie Gisela weckt. Kaum findet sie die Worte. Warum, Mama? Ich brauch doch kein Schlafmittel,
     ich schlaf doch schon, aber das Kind ist wohl zu müde, um darüber nachzudenken.
    Wilhelmines Hand zittert, sie kann die Dose und den Löffel kaum halten. Angewidert verzieht Gisela das Gesicht, sieht müde
     zu ihr auf und trinkt gierig, wischt sich den Mund am Ärmel und rollt sich wieder auf ihrem Lager zurecht. Und plötzlich ist
     Wilhelmine, als wäre alles in ihr klar und gläsern, kalt wie Metall. Nichts ist mehr von Belang als dieser Augenblick, in
     dem sie sich über sie beugt, sie küsst und die Wärme ihres Atems, ihrer Wange spürt, durch ihr Haar greift und das dünne Kettchen
     im Nacken spürt. Schlaf, meine Taube, schlaf.
    Wilhelmine ist die Letzte, es ist nur noch ein Rest in der Wasserflasche, sie bringt das trockene, gallebittere Zeug kaum
     hinunter, sammelt Spucke und schluckt, schluckt immer wieder und wendet sich schnell um, als Frau Bollow sich krümmt, sieht
     nur zu Gisela und ist so unendlich froh, dass sie ganz ruhig daliegt, wie vorher. Sie streichelt ihr über den Kopf, legt sich
     neben sie und hüllt sie ganz in ihren Arm.
    »Und dann hab ich noch an das Leben gedacht, dass wir nie leben würden, und an den Magnolienbaum im Nachbarhof, den man vom
     Küchenfenster aus sehen konnte. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, waren die Knospen schon ganz dick gewesen, wie zum
     Platzen. Ich konnte nur noch an diesen Baum denken und an die Blüten, ob sie schon aufgegangen waren, und dass ich sie nun
     nie mehr sehen würde.«
    Sie schnauft mit geschlossenen Augen, ihre Hand hält die Bettdecke umkrampft. Schwerfällig reibt sie das Tuch zwischen Daumen
     und Zeigefinger.
    »Und was …? Und du?« Das Mädchen dehnt die Worte, als wären es Blicke.
    »Ich … ich weiß es nicht. Irgendwann bin ich aufgewacht, draußen, im Hof vom Nachbarhaus. Unter der Magnolie. Zuerst hab ich
     gedacht, ich bin im Himmel, als ich die Blüten gesehen habe. Aber dann … Da war die Kette in meiner Hand …«
    Wilhelmine hört den Atem des Mädchens, er geht schwerer noch als ihr eigener.
    »Und … Russen?«
    »Nein.«
    Erst jetzt, als das Mädchen sich erhebt, wird Wilhelmine bewusst, dass sie die ganze Zeit über auf ihrem Bett gesessen hat.
     Sie hört sie die Wasserflasche aufschrauben, eingießen, hört das Klicken des Glases, als es schließlich auf die Glasplatte
     des Nachttischs zurückgestellt wird. Wilhelmine sieht ihre Silhouette wie einen Scherenschnitt vor dem Dämmerlicht und fragt
     sich, ob es tagt oder noch Abend ist, hat sie geschlafen? Und sie merkt, dass es ihr gleich ist, dass es keine Nacht mehr
     zu fürchten gibt. Die Welt ist weicher geworden. Die Gespenster sind fort.

Jelisaweta steht eine Weile neben dem Bett. Als sie spürt, dass sie Halt braucht, lässt sie sich auf den Stuhl zwischen Schrank
     und Fenster gleiten und lehnt sich an das dunkle Holz. Ihre Stimme ist leise, nimmt dennoch den ganzen Raum ein.
    »Hat sie Stärke bestimmt von dir gehabt. Ich meine, kann
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