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Magnolienschlaf - Roman

Magnolienschlaf - Roman

Titel: Magnolienschlaf - Roman
Autoren: Eva Baronsky
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Matratze neben Wilhelmine kauert Lotte aus Pommern, die bei den Naumanns untergekrochen ist.
Ihre Blicke treffen sich, verharren für einen Moment. Die Pommersche sagt selten etwas, dafür schreit sie nachts auf und wälzt
     sich, hat die Nägel abgekaut bis auf die Kuppen. Lotte nickt kaum merklich. Das kommt alles noch viel schlimmer, sagt ihr
     Blick, viel schlimmer, als ihr denkt.
    »Die Zähne musste zusammenbeißen, Oogen zu und durch, bis se fertich sind. Denn lassen se dir vielleicht am Leben.«
    »Wat fürn Leben soll das denn sein?«, entgegnet Frau Leineweber aus dem Dachgeschoss. »Als ob die dit bei einem Mal bewenden
     lassen – dit werden die neuen Herren hier, da ham wir alle nüscht mehr zu lachen. Ick hab ja schon von meiner Cousine erzählt,
     die sich auf de Schienen jeworfen hat … Also wat se mit der jemacht haben …«
    »Jetzt hören Sie doch endlich auf! Denken Sie doch an das Mädchen!«
    »Jenau an die denk ick ja. Die is doch man als Erste dran.«
    Alle Gesichter wenden sich Wilhelmine zu, schauen auf sie und das schlafende Kind.
    »Mensch, ehrlich, hat ja bald noch de Milchzähne, dit arme Ding …«
    Wilhelmine beißt sich auf die Lippen, starrt zitternd auf ihr Kleines, ihr Baby. Sieht sie vor sich, beim Baden, den bloßen,
     zarten Körper, die sich gerade erst hebenden Brüste, die feine, glatte Haut, so unberührt, so kostbar. Sieht derbe Stiefel,
     Spucke, Blut. Mit der flachen Hand erstickt sie den Schrei, der ihr entfährt. Wenn doch nur die Erde wieder bebte, die Welt
     endgültig über ihnen zusammenbräche
und sie alle unter sich begrübe. Wenn es doch nur ein Ende gäbe, ein jähes, schnelles Ende.
    Mit schwindender Kraft versucht Wilhelmine, die Schreckensbilder von sich zu stoßen, Blut, Leiber, Männerpranken, doch es
     gibt keine Flucht mehr, nirgendwohin. Nicht einmal in Gedanken.
    Dumpfes Poltern drischt in das Schweigen. Etwas kracht schwer gegen die eiserne Kellertür. Tritte, harte Schläge. Wilhelmines
     Herz steht für Sekunden still. Dann hetzt es davon, stolpert, wummert, als wüte eine Faust in ihrem Brustkorb. Sie ringt nach
     Luft. Wieder krachen feste Tritte gegen das Metall. Die Konturen der Frauen verschwimmen vor ihren Augen. Schreien will sie,
     doch ihre Kehle ist gelähmt wie in einem Alptraum. Gleich wird es vorbei sein, das ist alles, was sie denken kann, gleich
     passiert es, gleich sind wir tot, endlich. Sie fühlt das Kind neben sich, das sich brummend umdreht und dann verschlafen aufrichtet,
     zieht es in ihre Arme und weiß, dass sie ausharren wird, ausharren muss. Was immer sie tun kann für ihr Kind, sie wird es
     tun.
    Erneut die Schläge an der Tür. »Aufmachen! Los, Beeilung!«
    Sie hebt den Kopf. Ein vielstimmiges Aufatmen geht durch den Keller.
    »Dit sind unsere, Jott sei Dank!«
    Hedwigs Blick wandert durch den Keller, dann nickt sie knapp, steigt nach oben und entriegelt die Tür. Ein Wehrmachtsoffizier
     poltert die Treppe herunter, inspiziert den Keller, brüllt etwas, offenbar sucht er nach den eigenen Männern, die sich in
     die umliegenden Keller geflüchtet
haben, und rauscht davon, ohne ein Wort an die Frauen zu richten.
    »Was ist denn los, Mama?«
    Wilhelmine zittert noch immer. Ihr Puls hämmert durch ihren Körper, beruhigt sich nur zögernd, als wüsste er, dass dies nichts
     denn ein Aufschub ist, dass es kein Entkommen gibt, sondern nur die Frage nach dem Wann.
    »Nichts, mein Hase, alles ist gut.« Mit fahrigem Griff wühlt Wilhelmine in dem dichten Schokoladenhaar.
    In der Ferne Donnergrollen. Flieger. Noch zittert der Boden nur leicht, aber Wilhelmine schöpft Hoffnung, vielleicht treffen
     sie dieses Mal. Lieber Gott, ja, vielleicht geht ja alles doch noch ganz schnell.

S chon kurz vor der Grenze bei Krasnoje beginnt die Frau neben Jelisaweta unter dem Sitz zu wühlen, deponiert dann mehrere,
     in Zeitungspapier gewickelte Päckchen auf dem Klapptisch am Vordersitz. Der Geruch nach billiger Fleischpastete und Tee schlägt
     um sich.
    Jelisaweta wendet sich ab und sieht aus dem Fenster. Dunkles Blau geht allmählich in Schwarz über, dann und wann beleuchten
     ein paar Scheinwerfer eine vorüberhuschende Baracke.
    Die Frau auf dem Gangplatz pufft Jelisaweta gegen den Arm, hält ihr einladend das aufgeklappte Zeitungspapier mit schmalztriefenden
     Piroschki unter die Nase. Sie hat ein Gesicht wie ein Eierkuchen; einer von denen, die mit Eischnee und Backpulver zusätzlich
     aufgetrieben sind. Eine Rosine klebt an
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