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Magnolienschlaf - Roman

Magnolienschlaf - Roman

Titel: Magnolienschlaf - Roman
Autoren: Eva Baronsky
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Wurstkordel. Draußen vor dem Wagen steht
     Herr Hübner und tritt von einem Fuß auf den anderen. »Auf Wiedersehen, Lisa.«
    Jelisaweta nickt knapp. Die Tür fällt ins Schloss.
    Sie steht eine Weile reglos in der Stille, wie nach einem Blitzgewitter, sieht durch die gelbliche Haustürverglasung schemenhaft
     den Wagen davonrollen. Kraftlos schüttelt sie den Kopf. Deutsche! Dann schaut sie sich in der Diele um, wo ihre Jacke an der
     Garderobe hängt; vergilbte Tüllgardinen dämpfen das blasse Morgenlicht. Auf einer Truhe steht eine Telefonstation mit Mobilteil,
     das seltsam futuristisch in dieser Umgebung wirkt, daneben ein altmodischer Armlehnstuhl mit dunkelroten Kissen. Sie bleibt
     reglos im Türrahmen der kleinen Küche stehen.
    Obwohl sie zunächst den Eindruck von Stille gehabt hat, nimmt sie nun Geräusche wahr: das Brummen des Kühlschranks, das Bellen
     eines Hundes von fern. Eine bemalte Wanduhr in der Diele tickt einen Takt, der ihr immer langsamer vorkommt, je länger sie
     ihm lauscht. All diese Töne erscheinen ihr für eine Weile wie geflüsterte Stimmen, als führe das Haus ein Eigenleben, zu dem
     Zwanzigjährige und deren Zeitverständnis keinen Zugang haben.
    Die Müdigkeit brennt in Jelisawetas Augen, sie schließt sie für einen Moment, lauscht auf die Geräusche. Sie sind wie ein
     Bild, denkt Jelisaweta, ein unsichtbares Bild für die Ohren, und sie stellt sich vor, blind zu sein und darauf angewiesen,
     die Welt mit dem Gehör wahrzunehmen. Fragt sich, ob ihre Ohren dieses Haus mögen, in dem sich die Töne so anders formen als
     in der Wohnung, die sie mit Mama teilt und in der das unregelmäßige Brummen des Verkehrs, das Surren der anfahrenden Trolleybusse
     nicht einmal in der Nacht zum Schweigen kommt.
    Hier brummt kein Auto, und die Straße vor dem Haus macht nicht den Eindruck, als würden Busse auf ihr herumfahren. Sie schweigt
     und schläft. Das ist ein Kaff, denkt Jelisaweta, schnaubt und öffnet entschlossen die Augen. Sie haben gelogen, das ist nicht
     Frankfurt, du bist verdammt noch mal auf dem Land. Niemals, hatte sie sich geschworen, niemals ginge sie aufs Land. Wenn man
     irgendwo verrückt werden kann, dann auf dem Land.
    Jelisaweta lehnt sich gegen den Türrahmen, sieht die Getreidesilos von Staraja Mestnostsch, tristgraue Türme, die aus der
     Entfernung betrachtet wie leere Klopapierrollen in der Landschaft stehen. Ein paar Häuser, die so weit verstreut sind, dass
     man nicht einmal weiß, wo das Nest anfängt und wo es endet. Die Dorfstraße, die aussieht, als hätte man hie und da ein paar
     Eimer Asphalt auf eine Lehmpiste gekippt. Und rundherum und zwischendrin Felder. Ein paar Büsche und Bäume und sonst nichts.
     So ist Staraja Mestnostsch, und Mama würde toben, wenn sie wüsste, dass Jelisaweta längst dort gewesen ist, sich von der Schulabschlussreise
     mit dem Bus und schließlich als Anhalterin auf einem Milchlaster davongestohlenund einen Abstecher nach Staraja Mestnostsch gemacht hat. Dass sie einen schwülheißen Mittag lang zwischen den Scheunen und
     Baracken umhergestreunt ist auf der Suche nach Gesichtern, in denen es etwas zu finden gäbe, irgendetwas, ein vertrautes Zucken
     in den Brauen, eine Mundbewegung. Auf ein Erkennen zu hoffen, hatte sie sich selbst versagt. Aber nichts davon ist ihr begegnet,
     nur eine junge Frau in Jeans und Kittelschürze, die auf einem Graswall am Rande eines furchigen Ackers kniet und Knollen in
     einen Eimer sammelt. Die Frau hebt den Kopf, schaut mit wildleerem Blick in Jelisawetas Richtung und senkt ihn dann wieder.
     Nichts weiter. Jelisaweta kämpft gegen den Impuls, stehen zu bleiben und sie zu betrachten, doch eine eigenartige Scham überkommt
     sie, eine Scham, die Jelisaweta nicht zuordnen kann, also presst sie nur ein leises »Priwjet« hervor und läuft weiter in die
     Richtung, in der sie so etwas wie das Zentrum der wenigen, verstreuten Gebäude vermutet.
    Sobald sie aus dem Schatten der Bäume tritt, schlägt die Luft um, aus feuchter Kühle wird Glut, und die Sonne legt sich wie
     eine Heizdecke auf ihren Rücken. Der Platz zwischen den Häusern staubt unter ihren Füßen. Es ist unwirklich still, so still,
     dass ihr das Brummen der Insekten laut erscheint, für einen Moment glaubt sie sogar, das Flattern eines Schmetterlings zu
     hören.
    Eine Geisterstadt, denkt Jelisaweta und versucht, im Vorübergehen Blicke ins Innere der Häuser zu werfen, doch hinter den
     staubigen Fensterscheiben ist es
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