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Magnolienschlaf - Roman

Magnolienschlaf - Roman

Titel: Magnolienschlaf - Roman
Autoren: Eva Baronsky
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wird unruhig, am liebsten
     liefe sie selbst hinunter, das Kind weiß ja gar nicht, wo alles steht. Jetzt klappert Geschirr, kurz darauf kommt sie die
     Treppe herauf und stellt einen dampfenden Henkelbecher auf dem Nachttisch ab, richtet Wilhelmine die Kissen im Rücken und
     ist abermals verschwunden.

Unendlich erleichtert kehrt Jelisaweta in die Küche zurück. Das ist ein Mütterchen. Eines von den betulichen, die nie klagen
     und sich nie beschweren; die sind selten, ein Glücksfall, und diese Feststellung beschwingt sie beinahe. Mit Eifer inspiziert
     sie die Vorräte: mehrere Kartons haltbare Milch, Tütensuppen, ein paar Eier, etliche Schachteln Frühstücksflocken und neun
     Dosen Pichelsteiner Eintopf. Sie greift eine davon heraus, betrachtet das Etikett. Diese alte Dame muss wirklich genügsam
     sein. Jelisaweta stellt die Dose zurück und lässt ihre Schultern kreisen, die vom langen Sitzen im Autobus ganz verspannt
     sind. Die Stille umgibt sie wie Brei.
    Ganz oben im Schrank steht ein dickes Kochbuch, als sie es zur Hand nimmt, rutscht ein vergilbtes Blatt heraus, offenbar der
     Umschlag einer Gebrauchsanleitung, eine Frau mit Tupfenkleid und strichdünner Taille tanzt pfannenschwingend über eine riesenhafte
     Herdplatte. Auf der Rückseite ist ein Kochherd abgebildet, ein Elektro-Modell mit zusätzlicher Kohlenklappe, wie man es nicht
     einmal im hintersten Sibirien mehr fände.
    Jelisaweta fühlt über das vergilbte, zerfaserte Papier. Wie alt mag es sein, fünfzig, sechzig Jahre? Behutsam schiebt sie
     es in das Kochbuch zurück, blättert darin, schaut sich die altmodischen Farbbilder an, bis ihr Blick auf drei Matrjoschka-Puppen
     zwischen Petersiliensträußchen fällt. Jäh steigt eine längst vergessene Beklemmung in ihr auf; sie sieht das graue Gesicht
     von Babka und glaubt für einen Moment, den Geruch ihrer Stube riechen zu können.
    Wie im Kino ziehen Erinnerungen auf, werden zu Gerüchen, zu Worten, zu Gefühlen, sie kann das Musterder Tapete unter ihren Fingerspitzen spüren. Die Farbe bildet Wälle auf dem Papier, wobei sich die schmalen rostroten dicker
     anfühlen als die dottergelben breiten. Sie glänzen ein bisschen, wenn die Deckenlampe im Flur angeschaltet ist, doch Jelisaweta
     knipst sie nicht an. Jedes Mal überkommt sie ein schlechtes Gewissen, wenn sie auf Zehenspitzen zur Toilette schleicht und
     sich mit den Händen an der Wand entlangtastet. Es sind mehr gelbe Streifen, als Jelisaweta zählen kann, zwischen dem Wohnzimmer,
     in dem sie mit Mama schläft, und dem Badezimmer; sie braucht fünf Schritte dafür, manchmal sechs, wenn sie besonders vorsichtig
     geht.
    Nur mit dicken Strümpfen darf man es wagen, auf das Linoleum zu treten, sonst verrät das schmatzende Geräusch der nackten
     Füße auf dem kalten Boden jede Heimlichkeit. Doch auch wenn sie ganz leise ist, passiert es, dass Babkas Stimme aus dem Zimmer
     dringt: »Jelisa weta ! Dawai, dawai!« Dann muss Jelisaweta gehorchen, ob sie will oder nicht. Ergeben öffnet sie die Tür, tritt in den kleinen
     Raum mit dem staubig-stinkigen Geruch, der auch durch Lüften nicht weggeht. Vielleicht, denkt Jelisaweta, ist es andere Luft,
     die hereinkommt, nicht die frische, die durch die Fenster der anderen Räume weht, sondern solche für alte Leute, Luft, die
     stickig und wunderlich riecht. Früher hat Babka noch im Sessel gesessen, jetzt liegt sie immer im Bett, eine Menge Kissen
     in ihrem Rücken aufgetürmt. Auch die gehäkelten aus grellbunter Wolle sind dabei, mit denen Jelisaweta so gerne gespielt hat.
     Traurig sieht sie darauf, sie sind zum Spielen nicht mehr zu gebrauchen, jetzt, wo Babkas Rücken sie berührt hat.
    »Jelisaweta soll sich setzen.« Babka spricht immer so mit ihr. »Wo ist Jelisaweta gewesen?« Es ist eine fremde Sprache, obwohl
     Babka natürlich Russisch spricht. Manchmal wundert Jelisaweta sich, warum andere Großmütter mit ihren Enkeln nicht so reden,
     aber das sind auch Babuljas, keine Babkas.
    »Jelisaweta soll sich die Geschichte vom Puppenschnitzer anhören.«
    Jelisaweta nickt, sie kennt sie längst, diese Geschichte, sie hat sie schon oft gehört, mindestens tausendmillionenmal. Trotzdem:
     Wenn Jelisaweta zu Babka muss, ist diese komische Angst, dieses Gruseln in ihr drinnen. Es ist eklig, aber auch ein bisschen
     schön, deswegen bringt Jelisaweta es sowieso nicht fertig, abzulehnen. Vermutlich würde die Babka sich auch nicht darum scheren
     und die Geschichte dennoch erzählen,
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