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Magnolienschlaf - Roman

Magnolienschlaf - Roman

Titel: Magnolienschlaf - Roman
Autoren: Eva Baronsky
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hat. »Vielleicht, wenn man sie gefragt hätte, wenn man ihr eine Wahl gelassen hätte.« Wilhelmine atmet tief. »Wenn
     ich ihr eine Wahl gelassen hätte …
    Vielleicht hätte sie lieber leben wollen. Aber sie war doch noch so klein, so unversehrt. Sie hat doch in meinem Arm gelegen
     und den Kopf unter meinen Mantel gesteckt, wenn es wieder losging und der ganze Keller gezittert hat. Wie hätte sie da überleben
     können, wenn einer … Dann habe ich immer gehofft, dass die Bomben uns treffen, dass das ganze Haus zusammenfällt und uns alle
     und den ganzen Keller begräbt. Dass es schnell vorbei ist, das habe ich mir gewünscht. Kannst du dir das vorstellen? Ach was,
     nein.« Unvermittelt nimmt sie ihre Hand von der warmen Russenhand und winkt ab, ehe sie von neuem beginnt, das Betttuch zu
     kneten.
    »Das wäre der leichtere Tod gewesen, leichter als der, den die russischen Schweine uns beschert hätten. Und schneller.«
    Wilhelmine kann hören, wie das Mädchen sich strafft. Es kommt lange kein Wort von ihr, bis ihr Ton hart in das Schweigen schneidet.
     »So ja? Russische Soldaten haben deutsche Frauen alle geschandet, ja?«
    »Ach, hör auf! Ich weiß doch, wie die gewütet haben, diese Bluthunde. Abgeschlachtet haben sie alle, die ihnen in den Weg
     kamen. Alte, junge, alle! Wir haben doch die Bilder gesehen. Ein Keller voller Frauen, was meinst du, was die mit uns gemacht
     hätten? Mit IHR!«
    Die Matratze schwankt, als das Mädchen aufspringt. »Und? Was? Glaubst du, deutsche Soldaten sind besser als russische? Ja?«
    »Wenn die Russen nicht gewesen wären, wäre Gisela am Leben geblieben!«
    »Aber – hast
du
sie umgebracht.« Sie hat die Worte nur gezischt.
    Wilhelmine greift sich an den Hals. Sie hört die Schritte des Mädchens, hört das Türblatt schaben und die Tür vom grünen Zimmer
     ins Schloss schlagen. Dann ist es still bis auf das Rauschen in Wilhelmines Ohren. »Nein, bleib«, flüstert sie, doch sie weiß,
     dass die andere es nicht mehr gehört hat.

Ohne den Reißverschluss zu öffnen, zerrt Jelisaweta sich die Sweatshirtjacke über den Kopf, wirft sie, wie sie ist, auf den
     Boden, irgendwohin. Sie gräbt sich in ihr Bett, versucht, die Decke in die rechte Position zu bringen, doch je mehr sie daran
     zieht, desto weiter knäult sich das Inlett zusammen, bis ihre Schulter nur mehr vom leeren Bezug bedeckt ist.
    Jelisaweta schließt die Augen und trotzt nach dem Schlaf, der nicht kommen wird, hellwach, als stünde sie auf einem mittagshellen
     Platz.
    »Prokljataja fignja!« Mit beiden Beinen strampelt sie gegen den Wulst an, den die zusammengeballte Decke im Bezug bildet,
     schleudert schließlich alles von sich und steigt aus dem Bett, stapft zum Fenster, das in einer winzigen Gaube gefangen liegt,
     und starrt hinaus. Der Gartenhinter dem Haus ist dunkel, und die Nacht hat alle Schatten verschluckt.
    Staraja Mestnostsch. Warum fällt ihr ausgerechnet jetzt Staraja Mestnostsch ein? Die seltsam schwere Mittagsluft, die über
     dem Ort lag, der Staub, der von der Straße aufstieg und den sie jetzt beinahe schmecken kann. Und schemenhaft, wie in einem
     farblosen Traum, sieht sie unten im Garten, zwischen den knospenden Apfelbäumen, das junge Mädchen knien, das auf dem Feld
     Kartoffeln aufgesammelt hatte. Jelisaweta setzt ein Knie auf den Korbstuhl, der unter dem Fenster steht, und lehnt die Stirn
     gegen das Fensterglas. Mittagslicht fällt auf den Acker, das Mädchen hat die Schürze gerafft, birgt die Knollen darin, an
     denen die Erdbrocken noch wie Schalen kleben. Plötzlich ein Ruf, das Mädchen sieht auf, hält Ausschau nach der Gefährtin,
     die ein Stück weiter in der Erde gegraben hat, doch die steht längst am Feldrand und rudert wild mit den Armen. Von der gegenüberliegenden
     Seite des Ackers, vom Waldrand, nähern sich drei Männer, sie tragen Uniformen und Gewehre, mit den Kolben stoßen sie zwei
     weitere Männer vor sich her, deren Hände hinter dem Rücken verschwinden.
    Sie hört die Rufe der Männer, fremde Stimmen, eine fremde Sprache, die sie nicht versteht, sieht, wie sie näher kommen, immer
     die beiden Gefesselten vor sich hertreibend.
    Dann fällt ein Schatten auf die junge Frau, verdreckte Stiefel, zerschlissene Hosen, und die Gewehre sind jetzt ganz nah.
     Die Soldaten reden auf sie ein, einer fängt an zu lachen und bedeutet ihr, mit nach oben gewandten Handflächen, aufzustehen.
     Doch sie kniet reglos in ihrerFurche und starrt auf die Gewehre, in
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