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Magnolienschlaf - Roman

Magnolienschlaf - Roman

Titel: Magnolienschlaf - Roman
Autoren: Eva Baronsky
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Garten wie ein sauberer, feuchtfrischer Teppich in Grün und Sattbraun vor ihr. Durch die Tannen verbleibt der
     Sonne nur ein schmales Rechteck, das rasch über den Boden wandert und bald von den Schatten geschluckt werden wird. Jelisaweta
     beeilt sich, die Geräte in den Keller zu räumen und ins Haus zurückzukehren, wo sie unschlüssig am Fenster steht und in das
     sich allmählich rötende Vorfrühlingslicht schaut. Endlich reißt sie an ihrer Entschlossenheit und an der dunklen Eichentür
     des Wohnzimmerschrankes und greift in die kleine Herzdose. Leise steigt sie nach oben.

Etwas schlägt hart gegen die Bettkante, es muss der Schemel sein, unwillig schält sich Wilhelmine aus ihrem Dämmerschlaf,
     spürt, dass die Russin neben dem Bett sitzt. Kann es allein deren Anwesenheit sein, die sie geweckt hat? Wie lange verharrt
     sie schon dort? Wilhelmine weißes nicht, die Zeit steht still oder rast, es bleibt sich gleich, als hätte die Zeit keine Verbindung mehr zu ihr.
    Wie ein Vorwurf sitzt das Mädchen da, bohrt sich wortlos in ihr Gemüt, stochert mit spitzen Fingern nach Wunden, bis Wilhelmines
     Puls jählings zu rasen beginnt.
    »Was willst du von mir?«, fragt sie matt. Lass mich, denkt sie, lass mich endlich in Frieden.
    »Das gibt keine Gisela? Aber gibt das hier …!«
    Wilhelmine wendet den Kopf, der Ton ist ihr Befehl. »Was … hast du da?«
    Dann erkennt sie die Taube, sie schwingt vor ihrem Gesicht, nur in Gedanken greift sie danach, fühlt die Kettenglieder zwischen
     ihren Fingern, die Kanten der Flügel, so vertraut.
    »Das ist von Gisela, stimmt es?«
    Gisela. Zum Greifen nah. Hier und jetzt, vor ihren Augen. Wilhelmines Brust krampft.
    Nie hatte sie ruhig sein können, die kleine Taube, war von einem Flügel auf den anderen gesprungen, vor dem Schlüsselbein
     hin und her. Das ganze Kind war unablässig in Bewegung gewesen, von einer kraftvollen, sehnigen Unruhe getrieben.
    »Gisela …« Wilhelmine sieht sie vor sich, am offenen Küchenfenster, die letzten Sonnenstrahlen vergolden die Häuserfront gegenüber.
     Eine Fensterscheibe reflektiert das Licht und schickt es in ihre Küche, ein unverhofftes, anachronistisches Licht, das auf
     ihren Haaren liegt und sie glänzen macht.
    »Sie hat … so schöne Haare gehabt. Wie du. Nur länger, viel länger.« Sie muss jedes Wort eine Weile anschauen, ehe sie es
     freigeben kann. Manchmal hat Wilhelmine dieZöpfe wieder geöffnet, nur um sie noch einmal flechten und ihr dabei durchs Haar streichen zu können. Aber sie war immer so
     zappelig, ist aufgesprungen, ehe Wilhelmine fertig war, und dann mit wehenden Haaren davongelaufen.
    Wilhelmine lauscht auf den Atem der anderen und spürt mit einem Mal, wie sehr sie dieses Geräusch enttäuscht. Muss sich eingestehen,
     dass da immer diese Hoffnung war, deren Sinnlosigkeit niemals ernsthaft zu ihr durchgedrungen ist. Die Hoffnung, es werde
ihre
Nähe sein, einmal nur noch, wenigstens ein einziges Mal.
    »Sie …« Wilhelmine atmet lange. »Es war doch Krieg.« Sie hört sie schreien, quer durch die Wohnung: Mama! Komm! Ehe Wilhelmine
     sich umgedreht hat, kommt sie ihr schon entgegengestürzt, packt Wilhelmines Handgelenk und zerrt sie zum Erkerfenster, zeigt
     die Straße hinunter, weit raus Richtung Spandau, wo der Himmel rötlich leuchtet. Komm, wir gehen rauf, Mama, bitte …! Schon
     drängt sie zur Diele, stürmt aus der Wohnung und die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Sie ist bereits
     im nächsten Stock angelangt, als Wilhelmine endlich ihre Starre verliert und hinterherläuft. Mit halboffenem Mund steht das
     Kind auf der obersten Stufe und starrt aus dem Giebelfenster. Mama! Wie schön!
    Wie Abendrot hängt der Himmel über den Dächern, wie in einem schleppenden Tanz wabert die glutrote Luft auf und ab, jagt gelegentliche
     Funkenstöße wie ein Feuerwerk in die Nacht hinaus. Wilhelmines Blick geistert hin und her, sucht eine Brücke zu schlagen zwischen
     dem Anblick der von Brandbomben entzündeten Stadt undden in heller Aufruhr und Begeisterung leuchtenden Kinderaugen.
    »Ich habe immer Angst um sie haben müssen. Sie war so … lebendig, hatte so viel Kraft. Nichts hat sie erschüttern können.
     Ach …« Wilhelmine versucht, sich zur Seite zu drehen. »Aus ihr wäre bestimmt etwas Besonderes …« Sie schweigt, liegt, tastet
     nach dem Wasserglas und spürt, wie die Russin ihr den Schnabelbecher an die Lippen hält. Wasser, in kleinen Schlucken, o Gott.
    
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