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Magnolienschlaf - Roman

Magnolienschlaf - Roman

Titel: Magnolienschlaf - Roman
Autoren: Eva Baronsky
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der Quitte der Hühnerstall, vor dem Truthahn
     ist sie davongelaufen, als sie klein war, vor dem hatte sie Angst.
    »Ich hab sie nicht zu ihr gelassen. Ich wollte sie bei mir haben, man wusste ja nie, was passiert … Dabei wollte sie immer
     raus, ach, Mama, hat sie gesagt, sorg dich nicht so, ich bin schneller als jedes Geschoss. Darüber hat sie gelacht.«
    Sie rennt über das Trottoir, den ganzen Block entlang, erst an der Ecke bleibt sie lachend stehen. Wie auf Stelzen sitzt ihr
     Rumpf auf den Beinen, die Arme schlackern um den Leib, alles viel zu lang, denkt Wilhelmine und atmet tief. Hellwach ist Wilhelmine,
     obwohl es finster ist, ganz so, als hielte die Zeit an, als hätte die Müdigkeit keinen Zugriff mehr.
    »Als das anfing mit den Sonderzuteilungen und sie mit Zucker und Butter ankam, da hat der alte Herr Zielen gleich gesagt,
     jetzt geht es los, jetzt kriegen wir die letzten Reste und dann Licht aus.
    Ich hab ihr verboten, rauszugehen. Wir mussten ja sowieso ständig in den Keller, und ich wusste, wenn ich sie gehen lasse,
     kommt sie vielleicht nicht mehr zurück.
    Zum Schluss kamen die Angriffe ohne Fliegeralarm. Ohne jede Vorwarnung. Da sind wir überhaupt nicht mehr raus aus dem Keller,
     haben unsere Matratzen und Betten runtergeschafft und unsere Koffer. Das ganze Haus, die Frau aus dem zweiten Stock, Damert
     oder Davert hat sie geheißen. Mit ihrer Tochter, die war schwanger.« Und plötzlich erinnert sich Wilhelmine wieder an das
     Gesicht der Frau, prall und rund, wie aufgeschwemmt. Ein Geburtsgesicht, hat eine gesagt, und Wilhelmine hat gehofft, dass
     es noch nicht so weit sein sollte. So sinnlos erschien ihr das Kinderkriegen in diesem Moment. Geboren werden, um zu sterben,
     was für ein Irrwitz.
    »Wer ist in Keller gegangen …?«
    »Was?« Wilhelmine schreckt auf. »Ja. Alle. Alle aus dem Haus. Und der alte Herr Zielen aus der Apotheke unten, ja, der natürlich.
     Mein Gott.« Sie starrt nach oben, dorthin, wo die Straßenlaterne ihre Lichtstreifen malt, und reibt das Laken zwischen ihren
     Fingern. Ihr ist kalt.
    »Sie wollte immer rauf. Ich muss den Himmel sehen, Mama, hat sie gesagt, nur mal eben den Himmel sehen. Manchmal ist sie ausgerissen
     und kam mit irgendetwas wieder, das sie aus der Wohnung geholt hatte. Schreibpapier oder ein Kartenspiel. Sie hat mit allen
     gespielt. Stadt–Land–Fluss und Rommé …«
    Ihr helles Kinderlachen tanzt wie ein verirrter Vogel durch den Keller, und für einen winzigen Augenblick dringt, für alle
     spürbar, der Abglanz jener Leichtigkeit durch die Luft, die unter den Trümmern draußen begraben ist, für alle Zeit, wie Wilhelmine
     scheint. Es hat etwas Obszönes, dieses Lachen, und Wilhelmine schickt einen mahnenden Blick. Sie entgegnet ihr mit einemMurren, legt die Spielkarten zur Seite und geht auf die Treppe zu. Nicht, ruft Wilhelmine. »Geh nicht!« Sie will hochschnellen,
     und doch es ist kaum mehr als ein Ruck, der durch ihren Köper geht, atemlos greift sie nach der Hand an ihrer Seite.
    »Nein. Ich wollte nicht, dass sie raufgeht. Schon gar nicht, wenn wieder ein Angriff vorüber war und keiner wusste, wie es
     oben aussieht. Ich wollte nicht, dass sie das sieht, verstehst du? Ich wollte doch nur, dass sie heil und ganz bleibt, nicht
     so wie das alles da draußen …«
    Wilhelmine hält inne, sucht das Gesicht des Mädchens und spürt Erleichterung, weil die Dunkelheit beinahe alles verschluckt.
     Sie schließt die Augen, öffnet sie, es macht kaum einen Unterschied.
    »Willst du?«
    Wilhelmines Kopfkissen hebt sich, sanft, wie im Krankenhaus, wenn einer das Bett verstellt. Sie fühlt den harten Schnabel
     der Tasse an ihrem Mund, schließt die Lippen darum, trinkt, winkt wieder ab und dreht den Kopf zur Seite. Wie ein Netz liegt
     die Nacht über allem, verwebt Zeiten und Orte, bis nur einer bleibt. Alles ist eins.
    »Vielleicht …« Sie zögert, ehe sie ihn ausspricht, diesen unaussprechlichen Gedanken, flüstert und hört dennoch den Hall ihrer
     Stimme im Raum. »Vielleicht hätte sie es überleben können, weißt du? Sie war so ein starkes Mädchen, so ein starker Mensch,
     so viel stärker als ich, aber das habe ich damals nicht begriffen …« Wieder hält sie inne, es ist gleich, wie lange, die Zeit
     hat keine Bedeutung mehr.
    »Später, da habe ich manchmal gedacht …« Wilhelmineschluckt mit aller Entschlossenheit an den Tränen, die ihr die Worte in der Kehle zu bannen suchen. Worte, die sie niemals
     gesprochen
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