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Magnolienschlaf - Roman

Magnolienschlaf - Roman

Titel: Magnolienschlaf - Roman
Autoren: Eva Baronsky
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Baumstümpfe, wie Wurzelreste vor ihr stehen.
     »Hör auf! Lass mich in Ruhe, ich habe genug Schmerzen ausgestanden, lass mir endlich meinen Frieden.«
    »Geschieht dich recht, wenn du leidest, hättest du besser nicht gemacht, so was.«
    Das Wort Racheengel fährt Wilhelmine jäh durch den Sinn, ihr, die sie seit einem halben Jahrhundert keine Kirche mehr betreten,
     keinen Gott mehr angesprochen hat, und sie hört, wie ihre eigene Stimme bricht. »Ich … ich hab es doch nicht gewollt. Glaub
     mir. Ich wollte doch wirklich mit ihr gehen …« Endlich schlägt sie die Hände vor das Gesicht, wehrt das Schluchzen ab, das
     ihr die Worte erstickt.
    »Hast du nur gemacht, weil sie russisch ist.«
    »Was?« Wilhelmine hält bei der Suche nach dem Taschentuch in ihrem Ärmel inne. »Wer ist russisch?«
    »Aber ist sie genauso deine Tochter.«
    »Gisela? Gisela ist doch keine Russin! Wie kannst du so etwas sagen?«
    Stille tritt ein, es ist, als hätte jemand dem Streit den Strom abgeschaltet. Erst nach einer Weile fängt das Mädchen wieder
     an zu sprechen, zögernd und nun mit leisem Trotz: »Aber … hast du gekriegt von diese russische Soldat …«
    »Schluss damit!« Nichts weiß dieses Weibsstück, gar nichts. »Keiner von denen hat mich je angefasst, so eine Frechheit, Gisela
     ist Josefs Tochter, merk dir das! Niemand hat mich angefasst!« Wilhelmine schließt die Augen, doch einem Nachtalb gleich erscheint
     das Gesicht des Offiziers mit einem Ausdruck zwischen Abscheu und Mitleid. Ohne eine Miene zu verziehen, tritt er ein. Er
     setzt die Füße kaum auf, hat es eilig, wieder aus dem Zimmer zu kommen, in dem Wilhelmine seit Wochen liegt und verfällt.
     Haut und Knochen, daran vergeht sich keiner, nicht einmal einer von denen. Auch dieses Mal legt er ihr ein in graues Papier
     gewickeltes Päckchen ans Fußende, Brot, Heringe oder sogar Speck, er schaut sie nicht an, und noch bevor Wilhelmine darüber
     nachdenken kann, ist er verschwunden.
    »Aber …«
    Wilhelmine schreckt auf. Entsetzen steht im Gesicht der Russin, Entsetzen und Fassungslosigkeit. Sie sieht den Dämon, denkt
     Wilhelmine. Den Dämon, der ich bin, den Dämon, vor dem es Wilhelmine selber graust, sobald sie nur einen Gedanken an ihn zulässt.
    »Aber …« Noch immer steht sie straff vor Wilhelmine, die Augen klar und stechend. »Was also hast du gemacht mit Gisela?«
    »Geh. Verschwinde.« Wilhelmine schlägt mir der Hand durch die Luft. »Ich weiß nicht, wovon du redest. Es gibt keine Gisela!«

Stille macht sich breit. Stillstand; Lähmung angesichts einer Bedrohung, für die man noch keine Worte kennt. Seit Tagen wagt
     Jelisaweta kaum, nach oben zu gehen, das Schlafzimmer verharrt, die Möbel und Gegenstände schweigen sie an in lautlosem Vorwurf,
     beinahe ist ihr, als stünde deren angehaltener Atem wie ein Ton im Raum, doch da ist nur das leise Schnaufen der alten Hennemann.
     Ohne Trotz liegt sie und ohne Stolz, ihr sonst so gereckter Hals ist verschwunden, der Kopf zwischen die Schultern gerutscht,
     als suche die greise Frau ihn zu verstecken.
    Etwas Unaussprechliches hat sich zwischen ihnen aufgetürmt. Erstickt jeden Gedanken, jedes Wort und jeden Blick, nicht aber
     die Faszination, die Jelisaweta zu treiben beginnt. Längst hat sie versucht, in das dritte der oberen Zimmer einzudringen,
     doch der Schlüssel bleibt unauffindbar, sie hat alle Schränke, alle Dosen und möglichen Verstecke danach durchgesehen. Nein,
     so wird sie nichts über den Verbleib dieser Gisela erfahren. Gisela, von der nicht einmal Karin Hübner etwas weiß. Gisela,
     die keine Russin ist und der sich Jelisaweta trotzdem auf eine unwirkliche Weise verbunden fühlt. Immer wieder ertappt sie
     sich dabei, Mutmaßungen über deren Schicksal anzustellen. Stück für Stück versucht Jelisaweta, sich ein Bild zusammenzusetzen,
     ein Bild, das mehr aus Lückendenn aus Fragmenten besteht; dabei ist es wie ein Spiel: ein Puzzlespiel, das seinen Reiz aus den Lücken bezieht. Sind sie
     erst geschlossen, so viel ahnt Jelisaweta, ist alles vorbei.
    Jelisaweta hat die schrumpeligen und matschigen Äpfel von den Bäumen im Garten genommen und in die Mülltonne geworfen. Sie
     hat die Beete geharkt und die fauligen Pflanzenreste des letzten Herbstes ausgerissen. Sie ist jeden Mittag zum Supermarkt
     und in das kleine Städtchen gelaufen, doch immer war ihr, als würde sie das Haus und seine Bewohnerin wie an einem Halsband
     hinter sich herschleifen.
    Nun liegt der
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