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Magier von Moskau

Magier von Moskau

Titel: Magier von Moskau
Autoren: B Akunin
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gehört nicht zu den Menschen, die sich nach einer Erschütterung unbedingt jemandem mitteilen müssen. Und schon gar nicht taugte ich für die Rolle seines Vertrauten.
    »Benötigen Sie meine Hilfe als Arzt?« fragte ich vorsichtig. »Soll ich zu ihr ins Krankenhaus fahren? Aber das Fräulein ist bestimmt schon untersucht worden. Außerdem bin ich kein praktizierender Arzt, sondern Pathologe. Meine Patienten bedürfen der medizinischen Hilfe nicht mehr.«
    »Fräulein Mironowa wurde bereits aus dem Krankenhaus entlassen – sie hat nicht mal einen Kratzer. Mein Diener hat sie in meine Wohnung gebracht, hat ihr heißen japanischen |271| Wodka zu trinken gegeben und sie ins Bett gelegt. Colombina ist außer Gefahr.« Gendsi nahm seine gigantische Brille ab, und vom Blick seiner stählernen Augen wurde mir ganz anders. »Ich brauche Sie nicht als Doktor, Herr Horatio, sondern in Ihrer anderen Eigenschaft. In der Eigenschaft des ›Mitarbeiters‹.«
    Ich wollte so tun, als verstünde ich diesen Terminus nicht, und hob erstaunt die Brauen, doch innerlich wurde mir ganz kalt.
    »Geben Sie sich keine Mühe, ich habe Sie längst enttarnt. Sie haben mein Gespräch mit Blagowolski belauscht, in dem ich erklärte, mit welchem Ziel ich Klubmitglied geworden bin. Durch den Spalt der angelehnten Tür blinkten Brillengläser, und Sie sind der einzige Brillenträger im Klub. Freilich nahm ich damals an, daß Sie der allgegenwärtige Reporter Shemailo sind. Nach dem Tod des Journalisten aber war mir klar, daß ich mich geirrt hatte. Damals bat ich meinen Diener, den Sie flüchtig kennen, einen Blick auf Sie zu werfen, und er bestätigte meine zweite Hypothese – Sie waren der Mann, der mich zu beschatten versuchte. In meinem Auftrag hat Masa nun Sie beschattet. Der Herr im karierten Westenanzug, mit dem Sie sich gestern in der Twerskaja-Jamskaja getroffen haben, ist bei der Gendarmerie, nicht wahr?«
    Ich flüsterte, am ganzen Leibe zitternd: »Was wollen Sie von mir? Ich habe Ihnen keinen Schaden zugefügt, ich schwör’s! Und die Geschichte mit den ›Liebhabern des Todes‹ ist zu Ende, der Klub aufgelöst.«
    »Der Klub ist aufgelöst, aber die Geschichte nicht zu Ende. Nach dem Krankenhaus habe ich Colombinas Wohnung einen Besuch abgestattet und das hier gefunden.« Gendsi zog ein merkwürdig marmoriertes Blatt Papier |272| hervor, durch das die Worte
»Ich warte«
hindurchschimmerten. »Deshalb ist Colombina aus dem Fenster gesprungen.«
    Ich starrte verblüfft auf das Papier. »Was bedeutet das?«
    »Es bedeutet, daß ich mich mit meinen Schlußfolgerungen geirrt habe, daß ich auf das allzu Offensichtliche hereingefallen bin und darum eine Reihe von Details und Umständen, die nicht ins Bild paßten, übersehen habe«, antwortete Gendsi nebulös. »Zu guter Letzt wäre das Mädchen, an dessen Schicksal ich Anteil nehme, fast gestorben. Horatio, Sie kommen jetzt mit. Sie werden als offizieller Zeuge fungieren und später Ihrem Gendarmeriechef berichten, was Sie gesehen und gehört haben. Aus Gründen, die Sie nicht zu wissen brauchen, ziehe ich es vor, mit der Moskauer Polizei keinen Kontakt aufzunehmen. Außerdem möchte ich die Stadt umgehend verlassen – sonst ist mein Rekord gefährdet.«
    Ich begriff nicht, was für einen Rekord er meinte, scheute mich aber, ihn danach zu fragen. Gendsi fügte, mir immer noch in die Augen blickend, hinzu: »Ich weiß, daß Sie kein ausgemachter Lump sind. Sie sind nur ein schwacher Mensch, der ein Opfer der Umstände wurde. Das bedeutet, für Sie ist nicht alles verloren. Es steht ja geschrieben, daß aus dem Schwachen ein Starker wird. Fahren wir.«
    Sein Ton war gebieterisch, ich konnte mich nicht widersetzen. Und ich wollte auch nicht.
    Wir fuhren bis zum Roshdestwenski-Boulevard auf dem Dreirad. Ich saß zwischen Gendsi und seinem sonderbaren Begleiter und klammerte mich mit beiden Händen an die Griffe. Das fürchterliche Gefährt wurde gelenkt von dem Jüdlein, das in den Kurven rief: »Vorwärts!« Geschwindigkeit und Gerüttel waren derart, daß ich nur auf eines bedacht war – nicht vom Sitz zu fallen.
    »Das letzte Stück gehen wir zu Fuß«, sagte Gendsi und |273| befahl dem Chauffeur, an der Ecke zu halten. »Der Motor macht zuviel Krach.«
    Der Halbwüchsige blieb zurück, um die Maschine zu bewachen, Gendsi und ich gingen in die Gasse.
    In den Fenstern des wohlbekannten Hauses brannte trotz der späten Stunde Licht.
    »Die Spinne«, murmelte Gendsi und streifte die
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