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Magier von Moskau

Magier von Moskau

Titel: Magier von Moskau
Autoren: B Akunin
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grenzenlosen Entsetzens beschreiben, das seine ebenmäßigen Züge verzerrte. Er krächzte, zerrte am Kragen, krümmte sich mit dumpfem Geheul.
    Ich verstand überhaupt nichts, und die Ereignisse überstürzten sich dermaßen, daß ich kaum folgen konnte.
    Von der Seite ertönte ein Klopfen, ich drehte mich um und sah, wie sich eine Hand an den Rand der offenen Luke klammerte, gleich darauf eine zweite; im nächsten Moment schob sich Gendsis Kopf aus der Öffnung – die Haare zerzaust, die zerkratzte Stirn in Falten gelegt. Und schon kletterte dieser erstaunliche Mensch heraus und klopfte sich die staubigen Ellbogen ab.
    »Was ist mit ihm?« fragte er, während er sich mit einem Taschentuch die aufgeschürften Finger abwischte.
    Die Frage bezog sich auf den Dogen, der sich unter schrecklichem Gebrüll am Boden wälzte und trotz aller Anstrengungen nicht mehr auf die Beine kam.
    »Er hat Wodka getrunken, trotz seiner kranken Leber«, erklärte ich stumpf, noch immer ganz benommen.
    |302| Gendsi trat zum Tisch. Er nahm mein Glas, roch daran und stellte es zurück. Dann beugte er sich über das Roulette, da, wo eben noch Blagowolskis Glas gestanden hatte. Ich sah, daß die verschütteten Wodkatropfen auf dem schwarzen Untergrund merkwürdige weiße Flecke zurückgelassen hatten.
    Sodann warf Gendsi einen Blick auf den sich in Krämpfen windenden Prospero, verzog das Gesicht und sagte halblaut: »Sieht nach Zarenwodka aus. Dieses Gemisch von Salpeter- und Schwefelsäure hat ihm die Speiseröhre und den Magen verätzt. Ein grauenhafter Tod!«
    Ich erschauerte, denn mir wurde erst jetzt klar, daß der niederträchtige Prospero mir dieses Gift zugedacht und nur ein glücklicher Zufall – eine Drehung des Glücksrads – mich vor dem fürchterlichen Schicksal bewahrt hatte!
    »Gehen wir, Horatio.« Gendsi zog mich am Ärmel. »Hier können wir nichts mehr tun. Genauso ist der unglückliche Radistschew gestorben. Blagowolski ist nicht zu retten. Und seine Qual nicht zu lindern – höchstens indem man ihn erschießt. Aber diesen Gefallen werde ich ihm nicht tun. Gehen wir.«
    Er schritt zur Tür. Ich folgte ihm eiligst. Hinter uns her gellten die Schreie des Sterbenden.
    »Aber … aber wie konnten Sie sich aus dem Brunnen befreien? Als Blagowolski zum zweitenmal die Luke öffnete, habe ich deutlich ein Poltern gehört. Sind Sie denn nicht in die Tiefe gestürzt?« fragte ich.
    »Der Sessel, auf den ich mich mit den Füßen stützte, ist hinuntergekracht«, antwortete Gendsi und streifte seine riesigen Stulpenhandschuhe über. »Um meinen Herstal tut es mir wahnsinnig leid, das war ein hervorragender Revolver. Als ich mich mit beiden Händen am Lukendeckel festhalten |303| mußte, ist er runtergefallen. So einen bekommt man hier nicht zu kaufen, den muß man in Brüssel bestellen. Ich könnte mich natürlich in den Brunnen hinablassen und am Grunde suchen, aber in dieses Loch möchte ich nicht noch einmal. Brrr!«
    Er schüttelte sich, ich mich auch.
    »Warten Sie eine Viertelstunde und rufen Sie dann die Polizei an«, sagte er zum Abschied.
    Als er sich entfernt hatte, durchzuckte mich ein Gedanke: Nun hat der Doge des Selbstmörderklubs sich selbst vernichtet! So etwas nennt man höhere Gerechtigkeit! Es gibt Gott also doch!
    Dieser Gedanke beschäftigt mich jetzt am meisten. Ich halte es sogar für möglich, daß all die Erschütterungen der letzten Zeit nur den einen Sinn hatten: mich zu dieser Erkenntnis zu führen. Aber das geht Sie nichts an. Ich habe ohnehin viel Überflüssiges geschrieben, was nicht in ein offizielles Dokument gehört.
    Das Dargelegte resümierend, bezeuge ich in voller Verantwortlichkeit, daß alles so geschehen ist, wie ich es beschrieben habe.
    Sergej Irinarchowitsch Blagowolski wurde nicht ermordet. Er starb von eigener Hand.
    Und nun leben Sie wohl.
    Mit aufrichtiger Nichthochachtung Ihr
    F. F. Weltman, Doktor der Medizin
     
    PS Ich hielt es für meine Pflicht, Herrn Gendsi von dem Interesse zu erzählen, daß Sie und Ihre »hochgestellte Persönlichkeit« an seiner Person nehmen. Er war nicht im mindesten verwundert und bat mich, Ihnen und Ihrer »hochgestellten Persönlichkeit« auszurichten, es erübrige sich, weiter |304| nach ihm zu forschen und zu versuchen, ihm Schwierigkeiten zu bereiten, da er morgen (das heißt, heute) um die Mittagszeit die Stadt Moskau und das gottgefällige Vaterland verlasse, unter Mitnahme der ihm nahestehenden Menschen.
    Eben deshalb – um Herrn Gendsi Zeit
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