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Magier von Moskau

Magier von Moskau

Titel: Magier von Moskau
Autoren: B Akunin
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und als sie gleich wieder herauskam, war sie total verändert. Sie verabschiedete sich von ihrer Mutter, ging zum Flußufer und stürzte sich ins Wasser … Mir ließen Ophelias Worte keine Ruhe: Ihr sei ein ebensolches Zeichen gesandt worden wie dem König Belsazar. Und mir kam eine Idee. Ich fuhr nachts zu ihrem Haus und schnitt die äußere Fensterscheibe ihres Zimmers heraus. Die arme Beamtenwitwe wird am nächsten Morgen nicht schlecht gestaunt haben, als sie den rätselhaften Diebstahl entdeckte. Ich bestrahlte die Scheibe mit ultraviolettem Licht und machte die Umrisse einer verwischten, aber noch lesbaren Schrift sichtbar, die mit Phosphortusche aufgetragen war. Hier ist sie, ich habe sie abgeschrieben.«
    Ich erinnerte mich, wie sich der selbsternannte Ermittler in jener Nacht bei dem Häuschen an der Jausa zu schaffen gemacht hatte. Das war es also gewesen!
    Gendsi zog ein großes, vierfach gefaltetes Blatt Papier aus der Tasche und legte es auf den Tisch. Die Schrift sah etwa so aus:

    |284| »Was ist das?« fragte ich, die unverständlichen Zeichen betrachtend.
    Da nahm er das Blatt auf, drehte es um und hielt es vor die Tischlampe. Ich entzifferte die durchscheinenden Buchstaben des Wortes:
     
    STIRB
     
    »Als Ophelia das dunkle Zimmer betrat, sah sie eine leuchtende Flammenschrift, die in der Luft zu schweben schien und unzweideutig befahl: Stirb. Der TOD hatte seinen Willen kundgetan, und das Mädchen wagte nicht, sich ihm zu widersetzen. Von Kind an war sie gewohnt, vorbehaltlos auf die heimlichen Zeichen des Schicksals zu hören … Und Sie«, Gendsi knüllte das Papier zusammen und warf es dem Dogen auf den Tisch, »Sie haben wahrscheinlich aus sicherer Entfernung zugesehen. Das Abscheulichste an dieser Geschichte ist nicht einmal der Mord, sondern der Umstand, daß Sie, nachdem Sie Ophelia schon zum Tod verurteilt hatten, noch ihren halbkindlichen Körper mißbrauchten. Sie wußten, daß Ophelia Sie insgeheim verehrte, ja, vergötterte, und befahlen ihr, noch zu bleiben, während die anderen Anwärter gingen, und es ist anzunehmen, daß Sie Liebesglut bewiesen – jedenfalls sah Ophelia, als sie nach Hause kam, sehr glücklich aus. Die Nähe des Todes entfacht Ihre Sinnlichkeit, nicht wahr? Sie hatten alles genau bedacht. Nachdem Sie Ihre Lust gestillt hatten, brachten Sie das Opfer galant nach Hause, verabschiedeten sich an der Pforte von dem Mädchen und schrieben dann rasch den verhängnisvollen Befehl auf die Fensterscheibe. Sie warteten eine Weile, und als Sie sicher waren, daß der Trick gewirkt hatte, wischten Sie die Schrift weg und fuhren nach Hause. Sie haben nur eines nicht bedacht, Sergej Irinarchowitsch. Die Scheibe ist ein Beweis, zudem ein unwiderlegbarer.«
    |285| »Ein unwiderlegbarer Beweis?« Blagowolski zuckte die Achseln. »Und wie wollen Sie beweisen, daß ausgerechnet ich diese Krakel auf das Glas geschrieben habe?«
    Mir schien auch, daß Gendsi zu selbstsicher war. Ja, ich erinnere mich, daß der Doge an jenem Abend Ophelia befahl, dazubleiben, und da ich seine Gepflogenheiten kenne, kann ich mir leicht vorstellen, was dann folgte. Aber als Beweis war das zu wenig.
    »Sie sind doch Ingenieur«, sagte Gendsi zu dem Dogen. »Und höchstwahrscheinlich verfolgen Sie den wissenschaftlichen Fortschritt. Sollte Ihnen etwa die Entdeckung entgangen sein, die im Juni diesen Jahres von der Londoner Polizei bekanntgegeben wurde?«
    Blagowolski und ich blickten den Sprechenden verständnislos an.
    »Ich meine die daktyloskopische Methode von Galton, die es zum erstenmal ermöglicht, einen Verbrecher anhand seiner Fingerabdrücke zu ermitteln. Die besten kriminalistischen Köpfe haben viele Jahre an der Schaffung eines Systems gearbeitet, das es erlaubt, das Papillarmuster der Fingerkuppen zu klassifizieren – und nun ist die Methode gefunden. Die deutlichsten Spuren bleiben auf Glas zurück. Sie haben zwar die Phosphorbuchstaben mit einem Tuch abgewischt, doch die Fingerabdrücke konnten Sie nicht restlos entfernen. Ich habe die photographischen Aufnahmen dreier Daktylogramme des Täters bei mir. Möchten Sie die mit Ihren Fingerabdrücken vergleichen?«
    Bei diesen Worten zog Gendsi aus der bodenlosen Tasche seiner Lederjacke ein Metallkästchen. Es enthielt eine Art Stempelkissen, mit dunkler Farbe oder Tusche getränkt.
    »Nein, das möchte ich nicht«, sagte Prospero rasch und zog die Hände zurück, verbarg sie unter dem Tisch. »Sie |286| haben recht, der wissenschaftliche
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