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Wolfsfeder

Wolfsfeder

Titel: Wolfsfeder
Autoren: Christian Oehlschläger
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EINS
    Eine dunkle Auspufffahne hinter
sich herziehend, quälte sich der Toyota den Hang hinauf. Dem rostroten Gefährt
waren die vielen Jahre anzusehen, die es auf dem Buckel hatte. Besorgt schaute
der Fahrer durch die Windschutzscheibe gen Himmel, wo sich eine mächtige
tiefschwarze Gewitterwolke vor die Nachmittagssonne geschoben hatte. Der
dunkelhäutige junge Mann mit dem modischen Kinnbart und den exakt gestutzten
Koteletten runzelte die Stirn. Mit einer raschen Bewegung nahm er die
Sonnenbrille ab und legte sie in die mit Teppichboden ausgelegte Ablage über
dem Autoradio.
    Mit durchgetretenem Gaspedal und
aufheulendem Motor erreichte das Fahrzeug schließlich die Anhöhe, auf der
zwischen zwei Mangobäumen ein einzelnes Haus stand, ein pastellrosa
angestrichenes Holzhaus mit türkisfarbenen Fensterrahmen, einem Wellblechdach
und einer alles überragenden Fernsehantenne, die an einem langen Bambusstab befestigt
war.
    Noch bevor der Wagen vor dem Gebäude zum
Stehen kam, fing es an zu regnen. Große, schwere Tropfen knallten auf Autodach
und Windschutzscheibe, erst wenige, dann immer mehr; schließlich schüttete es
wie aus Eimern. In aller Eile kurbelte der Fahrer das Seitenfenster hoch und
schaltete Scheibenwischer und Abblendlicht ein. Der tropische Platzregen hatte
den Tag von einer Sekunde zur anderen zur Nacht werden lassen.
    »Coño!«, fluchte
der junge Mann auf Spanisch. Obwohl er natürlich von den nachmittäglichen
Regengüssen hier oben in den Bergen der Cordillera Central wusste, ärgerte er
sich darüber, dass er nun nicht trockenen Fußes ins Haus gelangen konnte. Er
war nur um Sekunden zu spät gekommen.
    Dabei hätte er seiner Mutter und seinen
Geschwistern so gerne die neuen Schuhe gezeigt, schneeweiße Slipper aus
weichstem Ziegenleder mit einer profillosen, glatten Sohle, mit der sich
besonders gut Merengue tanzen ließ. Seine Schwestern hätten sie mit Entzücken
begutachtet.
    Doch so elegant sie auch waren – für
einen Spaziergang im knöcheltiefen Wasser, das sich inzwischen auf den wenigen
Metern Weg zwischen Auto und Haustür angesammelt hatte, waren sie nicht
geeignet. Er überlegte, ob er die Schuhe ausziehen, die Hosenbeine hochkrempeln
und barfuß ins Haus laufen sollte, verwarf diesen Gedanken aber rasch
wieder – und entschied sich für eine andere Lösung. Beherzt und in kurzen
Intervallen drückte er auf die Hupe.
    Der Regen ließ nicht nach. Endlich öffnete
sich die Haustür, und zwei Personen traten heraus. Mit Schirmen und einer
Plastikfolie vor dem prasselnden Regen geschützt, erreichten sie das mit
laufendem Motor wartende Auto.
    Die Beifahrertür wurde aufgerissen, und
eine junge Frau glitt behände auf den Sitz. Ein kurzer Blick reichte, um zu
sehen, dass ihre anmutig gewölbten Wangenknochen nicht nur von Regentropfen,
sondern auch von Tränen benetzt waren.
    Wortlos legte er ihr die rechte Hand auf
die Schulter; derweil streifte sie sich mit versteinerter Miene ihre Schuhe,
die sie für den Gang zum Auto wohlweislich ausgezogen und in den Händen
gehalten hatte, über die nackten Füße. Inzwischen hatte die andere Person einen
Koffer im Heck der Limousine verstaut und klopfte nun mit der flachen Hand
mehrmals aufs Autodach, um zu signalisieren, dass alles zur Abfahrt bereit war.
    Langsam setzte sich der Toyota in
Bewegung, während die Scheibenwischer versuchten, der Wassermassen Herr zu
werden. Der Fahrer schaute in den Rückspiegel und hupte zweimal zum Abschied.
Als sie die abschüssige Stelle erreichten, ließ er den Wagen im Leerlauf den
Hang hinabrollen.
    Die junge Frau an seiner Seite schaute
stur geradeaus. Tapfer wischte sie sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Doch
mit jedem Meter, den sie sich vom Haus entfernten, änderte sich ihr
Gesichtsausdruck. In ihren ausgesprochen hübschen Zügen spiegelten sich statt
Wehmut und Abschiedsschmerz nun Selbstbewusstsein, unbändiger Stolz – und
Entschlossenheit.
    Entschlossenheit, das glaubte nicht nur
ihr Bruder, brauchte sie für ihr Vorhaben vor allem. Zum ersten Mal in ihrem jungen
Leben würde sie ihre Familie und ihre vertraute Heimat für einige Zeit
verlassen, würde der Dominikanischen Republik, ihrem geliebten Eiland Hispañola und der gesamten
Karibik den Rücken kehren, um in Richtung Europa zu fliegen – nach Alemania , Deutschland, in ein
fernes, ihr gänzlich unbekanntes Land.
    Der Toyota hatte die Talsohle erreicht, an
der die eigentliche Ortschaft begann. Der Fahrer legte einen Gang ein,
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