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Wolfsfeder

Wolfsfeder

Titel: Wolfsfeder
Autoren: Christian Oehlschläger
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einzufinden. Man wollte mit lediglich einem Fahrzeug fahren.
    Als sie kurz danach aufbrachen, tröpfelten
die ersten Regentropfen auf die Windschutzscheibe.
    Ist ja wunderbar, befand Mendelski. Wenn
ich schon mal zur Jagd gehe … Ein klassischer Herbsttag im goldenen
Oktober mit azurblauem Himmel und einigen schneeweißen Schäfchenwolken davor
wäre wohl zu viel verlangt. Mit tief stehenden, wärmenden Sonnenstrahlen, dazu
ein leichter Wind, der die ersten, quittegelben Blätter von den Birken rieseln
lässt … Stattdessen jetzt so was.
    Hoffentlich habe ich wenigstens ein Dach
über dem Kopf.
    »Sie haben Dusel«, sagte Schwertfeger, als
hätte er die Gedanken seines Beifahrers erraten, und jagte in hohem Tempo über
den holprigen Sandweg. »Sie sitzen alle überdacht.«
    Zwanzig Minuten später, gegen
neun Uhr fünfzehn, machte Mendelski es sich auf seinem Ansitzbock bequem. Er
hatte tatsächlich einen Luxus-Ansitzbock mit Dach ergattert, auf dessen
Teerpappe inzwischen ein ausgewachsener Landregen niederprasselte. Der Hochsitz
war nagelneu; davon zeugten die unverwitterten, noch gelblich leuchtenden
Fichtenstangen und der angenehm harzige Geruch frisch gesägten Nadelholzes.
    Wahrscheinlich weihe ich ihn heute ein,
dachte der Kommissar zufrieden, während er mit dem Zeigefinger der rechten Hand
über die Gewehrauflage fuhr. Hier wird noch kein einziger Vorderschaft
aufgelegt, geschweige denn ein Schuss abgegeben worden sein.
    Der Ansitzbock stand in einem weitläufigen
Kiefern-Altholz, rund fünfzig Meter vom Hauptweg entfernt. Man hatte einen
guten Rundumblick, denn der Unterwuchs war spärlich. Auf dem kargen Sandboden
wuchsen außer Bäumen lediglich dünnhalmiges Drahtschmiele-Gras und das niedrige
Kraut der Heidelbeere. Anwechselndes Wild würde man also schon von Weitem gut
sehen können.
    »Dieser Stand taugt vor allem für Rot- und
Schwarzwild«, hatte Schwertfeger gemeint, bevor er sich von Mendelski
verabschiedet hatte. »Hier zieht eigentlich immer was durch. Ganz in der Nähe
kreuzen sich zwei Fernwechsel.«
    Um Punkt zehn Uhr – zum vereinbarten
Zeitpunkt – hörte er den ersten Jagdhund in der Ferne kläffen. Jetzt
durften mitgebrachte Hunde an den Sitzen geschnallt werden. Zur gleichen Zeit
machten sich zwei Treiberwehren mit weiteren Hunden auf den Weg.
    Das Hundegebell kam näher. Mendelski, der
bei dem ungemütlichen Wetter ein wenig gedöst hatte, setzte sich auf und rieb
seine müden Augen. Er legte seinen Stutzen zurecht, nahm das Fernglas zur Hand
und spähte in die Richtung, aus der das Gekläffe gekommen war.
    Da! War da nicht eine Bewegung gewesen?
Ungefähr achtzig Schritte entfernt? Er schwenkte das Glas zurück, bis die
mächtige Zwillingskiefer wieder in seinem Blickfeld lag. Für den Bruchteil
einer Sekunde hatte er dort etwas gesehen. Ein Huschen, einen grauen Schatten,
mehr nicht.
    Die beiden Kiefern ragten wie ein V
auseinander, sodass sich zwischen ihren Stämmen eine Öffnung auftat, die nach
oben hin rasch breiter wurde. Durch diesen Spalt spähte Mendelski mit seinem
Fernglas.
    Dann sah er den krummen Rücken.
    Unbeweglich stand das Tier im Regen. Vom
Ansitzbock aus konnte man nur einen kleinen Ausschnitt des Wildkörpers
erkennen, klitschnass, mit undefinierbarer Haarfarbe. Aus diesem Blickwinkel
war nicht auszumachen, auf welcher Seite das wie angewurzelt dastehende Stück
sein Haupt hatte, geschweige denn, um was für eine Wildart es sich handelte.
    »Ein einzelnes Stück …«, murmelte
Mendelski. Ein Reh? Eine Sau? Rotwild konnte er wegen der Größe ausschließen.
Was es auch war, es stellte sich verdammt clever an. Versteckte sich hinter dem
Baum und checkte erst mal die Lage.
    Vielleicht braucht die Kreatur hinter der
Zwillingskiefer die Hunde gar nicht zu fürchten, kam es Mendelski in den Sinn.
Vielleicht war es von der gleichen Gattung, nur wilder, schlauer, verwegener
und stärker.
    Die Okulare beschlugen, so aufgeregt
atmete er. Rasch setzte er das Fernglas ab, um es mit dem Ärmel seines Mantels
zu putzen.
    Handelte es sich bei dem rätselhaften
Geschöpf, das da regungslos in derselben Position verharrte, etwa um einen der
Wölfe, von denen heute Morgen erzählt worden war? Die Vorstellung von einer ersten
Begegnung mit einem frei lebenden Wolf in seiner Heimat, der Lüneburger Heide,
fand Mendelski ergreifend.
    Da sah er einen Hund den Waldweg
entlangkommen. Mit der Nase tief am Boden jagte der Wachtel lautlos einer
warmen Fährte nach. Bald würde er
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