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Wolfsfeder

Wolfsfeder

Titel: Wolfsfeder
Autoren: Christian Oehlschläger
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deponiert
hatte, für das Streckelegen zu verteilen. Verwundert stellte er fest, dass
diese Arbeit schon erledigt war. Jemand hatte das Fichtengrün auf einer Fläche
von ungefähr sechs mal acht Metern auf dem Erdboden verteilt.
    Wer mag das getan haben?, fragte er sich,
während er den Pick-up zum Stehen brachte. Doch nicht etwa der feine Herr von
Bartling? Nein, der würde sich die Hände sicher nicht schmutzig machen. Er
stieg aus dem Auto, stemmte die Arme in die Hüften und schaute sich um.
    Moment mal, was war das?
    Für einen Moment glaubte sich Karl-Heinz
Jagau in die letzte Nacht zurückversetzt, als er total betrunken seltsamen
Halluzinationen ausgesetzt gewesen war. Er rieb sich die Augen und trat einen
Schritt näher an den Streckenplatz heran.
    Da lugte doch tatsächlich ein Gesicht aus
dem Fichtengrün hervor. Mitten im Zentrum des Streckenplatzes. Ein
dunkelhäutiges, junges Gesicht, die hübsche Nase nach oben gestreckt.
    »Hey du«, rief er zaghaft. »Was machst du
da? Das ist hier kein Platz für Späßchen!«
    Keine Antwort.
    Er trat an den Rand des Fichtengrüns.
Deutlich erkannte er, dass vor ihm eine Person auf dem Rücken lag. Bis auf das
Gesicht war ihr ganzer Körper mit Fichtenzweigen zugedeckt.
    Die Augen der jungen Frau waren
geschlossen.
    »Dich kenn ich doch«, sagte Jagau. Um sich
selbst Mut zu machen, sprach er mit lauter Stimme. »Du bist doch das Mädchen
aus der Karibik, das bei den Kreinbrinks wohnt. Komm, lass den Quatsch, steh
auf, wir brauchen diesen Platz gleich.«
    Immer noch keinerlei Regung.
    Karl-Heinz Jagau schaute sich unsicher um.
Ob sich hier noch mehr von den jungen Leuten versteckten? Von denen, die er
schon mehrmals mit diesem schönen Mädchen auf der Straße in Eschede gesehen hatte.
Spielten sie ihm vielleicht einen Halloween-Streich? Dabei fand dieser
neumodische Brauch aus den USA doch normalerweise erst in drei Wochen, am letzten Oktoberwochenende, statt.
Oder handelte es sich hierbei etwa um einen boshaften Teenager-Protest gegen
die Jägerei?
    Vorsichtig betrat er das Fichtengrün. Kurz
vor der Stelle, wo sich unter den Zweigen die Füße des Mädchens befinden
mussten, blieb er stehen.
    Eine geschlagene Minute betrachtete er das
hübsche, erstarrte Gesicht.
    Seine Hand zitterte, als er endlich das
Handy aus der Westentasche fingerte und den Notruf wählte.
    * * *
    Robert Mendelski war tatsächlich
eingenickt.
    Mit zwei Portionen Fleischbrühe im Bauch
ließ es sich herrlich dösen. Außerdem war es schließlich die Zeit für ein
Mittagsschläfchen. Sein Ansitzbock für das Nachmittagstreiben war so bequem und
idyllisch an einem verhalten murmelnden Bächlein gelegen, dass Mendelski
unwillkürlich die Augen zugefallen waren.
    Der Kriminalhauptkommissar träumte von
Wölfen. Vom legendären »Würger vom Lichtenmoor«, dem eigentlich letzten frei
lebenden Wolf in Niedersachsen, der 1948 in der Nähe von Ahlden an der Aller
erlegt worden war.
    Plötzlich drang Wolfsheulen an sein Ohr.
Dieser lang gezogene, jaulende, nach Sehnsucht klingende Ton, den Wölfe gern in
Vollmondnächten von sich geben. Erschrocken schlug Mendelski die Augen auf und
hob den Kopf. Was für ein Traum!
    Aber nein, da war wirklich dieser Ton. Er
kam von der anderen Seite des Baches.
    Bis Mendelski registriert hatte, dass es
sich nicht um Wolfsgeheul, sondern um ein sich ständig wiederholendes
Jagdhornsignal handelte, vergingen einige Sekunden. Doch dann erkannte er es.
Da blies jemand ziemlich penetrant, immer und immer wieder, »Hahn in Ruh«.
    »Nanu?« Noch im Halbschlaf setzte
Mendelski sich auf und schaute auf seine Armbanduhr. »Zehn nach zwei und schon
›Hahn in Ruh‹? Ich denke, wir jagen bis um drei.«
    Bevor er sich weiter Gedanken über das
vorzeitige »Jagd vorbei«-Signal machen konnte, spürte er das Vibrieren seines
Handys in der Hosentasche. Sekunden später drückte er den grünen Knopf des
Mobiltelefons und lauschte.
    »Die Jagd ist abgebrochen«, hörte er von
Bartling aufgeregt sagen. »Sie müssen sofort kommen. Zum Streckenplatz. Hier
liegt etwas Schreckliches auf dem Fichtengrün.«
    »Was denn?« Mendelski war jetzt hellwach.
»Etwa ein Wolf?«
    »Nein, viel schlimmer.« Von Bartling holte
Luft. »Wir brauchen Sie hier beruflich, als Kriminalpolizist. Als Spezialist
für Tötungsdelikte.«
    Zehn Minuten später traf
Mendelski mit seinem eigenen Wagen am Streckenplatz ein. Schwertfeger hatte ihn
abgeholt und durch den Wald gelotst. Unterwegs waren ihnen
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